Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 658-660

Verfasst von: Ilgvars Misāns

 

Madlena Mahling: Ad rem publicam et ad ignem. Das mittelalterliche Schriftgut des Rigaer Rats und sein Fortbestand in der Neuzeit. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2015. XIV, 474 S. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 33. ISBN: 978-3-87969-398-6.

Der Haupttitel des Buches stammt aus dem am Ende des 16. Jahrhunderts über dem Kamin der Kanzleistube des Rigaer Rates angebrachten, heute nicht mehr vorhandenen Spruch und wird von der Verfasserin mit Eleganz im metaphorischen Sinn auf das Schriftgut dieser Institution bezogen. Gleich am Anfang der Untersuchung erklärt Madlena Mahling die Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks und formuliert zugleich auch die eigene Forschungsaufgabe: „Zu untersuchen ist, in welcher Art und Weise das Schriftgut über Jahrhunderte sich zwischen den Polen res publica und ignis, das heißt zwischen Gebrauch und Vernichtung, Erschließung und Vergessen hin zu seiner heutigen Gestalt bewegte, welchen Einflüssen und Entwicklungen es im Laufe der Zeit unterworfen war und in welche Zusammenhänge es in und außerhalb der Kanzlei und Archiv eingebunden wurde.“ (S. 4)

In dieser originellen Fragestellung besteht eine der stärksten Seiten der Monographie – geboten wird viel mehr als traditionelle chronologische Erzählung über eine Behörde und ihre Archivalien. Aus kulturhistorischer Perspektive ausgewertet wird die Entstehung, Aufbewahrung, Systematisierung der Dokumentation des Rates der mehr als 800 Jahre alten ehemaligen Hansestadt sowie die im Schriftgutkomplex erlittenen Verluste. Sowohl die mittelalterlichen Verhältnisse als auch spätere Einschnitte haben sich auf die Zusammenstellung der Dokumente ausgewirkt und den Umgang mit dem Schriftgut des Rates beeinflusst. Als sich die Stadt an der Düna seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zuerst der polnisch-litauischen, dann der schwedischen und zuletzt am Anfang des 18. Jahrhunderts der russischen Krone unterwerfen musste, entwickelte sich die Tätigkeit des Rigaer Rates unter wechselhaften Bedingungen. Wechselvoll war die Geschichte der Stadt und ihrer Verwaltung auch im 20. Jahrhundert.

Von 1918 bis zur sowjetischen Besetzung im Jahre 1940 war Riga Hauptstadt der Republik Lettland, danach fünfzig Jahre lang nur die Hauptstadt einer Teilrepublik der UdSSR, bis die Stadt nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit Lettlands in den Jahren 1990/1991 zu ihrem früheren Status zurückkehrte.

Es wird gezeigt, wie zeitgebunden und veränderlich das Interesse an dem mittelalterlichen Schriftgut des Rates und die Vorstellungen von seiner Verwendbarkeit vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart war, welche Bedeutung der jeweilige aktuelle Bezug für die Nutzung und Strukturierung des historischen Materials hatte. Konsequent bindet die Verfasserin ihre Analyse in den historischen, politischen und historiographischen Kontext der Entwicklung der Stadt, des Landes und seines Archivwesens ein und schildert, wie seinerzeit die deutsche Einwohnerschaft Rigas und Lettlands das Schrifttum des Rates im Kampf für ihre Privilegien und nationalen Interessen verwendete. Nachdem im 20. Jahrhundert die Bedeutung der mittelalterlichen Dokumente als Argument für die politische Debatte an Aktualität verloren hatte, wurde das Archiv vornehmlich als Sammlung historischer Quellen angesehen. Die Intensität ihrer Benutzung hing seitdem vom Interesse der Forschung an der älteren Geschichte Rigas und seines Rates ab.

Obwohl der Rigaer Rat nach Einschätzung von Madlena Mahling einst über eine der produktivsten Kanzleien im östlichen Ostseeraum verfügte (S. 3) und dementsprechend zahlreiche Dokumente hervorbrachte, besteht heutzutage sein Archiv weder als eine eigenständige administrative Institution, noch als eine einheitliche Dokumentensammlung. Die Bestände des ehemaligen Ratsarchivs sind aufgespalten und größtenteils in mehrere Fonds des Staatlichen Historischen Archivs Lettlands eingegliedert. Im diesen Zusammenhang fällt der Unterschied zur Rigaer Schwesterstadt der Hansezeit Reval – dem heutigen Tallinn – auf. Obwohl Estland ähnliche Machtwechsel und Einbrüche in seiner Geschichte erlebte, existiert das Stadtarchiv von Tallinn heute als Einrichtung des Stadtrats und ist sowohl als eine historisch gewachsene, kompakte Sammlung von Quellen als auch als Forschungsstätte lokal und international bekannt. Wenn auch Mahling sich nicht um einen speziellen Vergleich bemüht hat, wird es dem Leser verständlich, warum die Geschichte des Rats- bzw. Stadtarchivs von Riga in der neueren Zeit unter den gegebenen verwaltungstechnischen und politischen Bedingungen anders als die des Rats- bzw. Stadtarchivs der heutigen Hauptstadt Estlands verlaufen ist.

Die zweiteilige Gliederung der Arbeit (Teil I: Mittelalter, Teil II: Neuzeit – mit jeweils zahlreichen erweiterten Unterkapiteln) erleichtert nicht nur die Übersicht, sondern ist auch für die vorgenommene Analyse günstig. Im ersten Teil wird die Entstehung und Entwicklung des Rigaer Rates vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, seine Kanzlei, seine Jurisdiktion und das im diesen Zusammenhang entstandene Schriftgut sowie die Aufbewahrung und Ordnung des Letzteren dargestellt. Dabei wird nicht nur die komplizierte Geschichte des Schrifttumsbestands erklärt, sondern auch zum ersten Mal dieser historische Quellenkomplex umfassend ausgewertet. Im zweiten Teil, der sich chronologisch vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erstreckt, wird gezeigt, wie man das mittelalterliche Ratsschriftgut in der Neuzeit einerseits rezipiert, geordnet und für die Forschung erschlossen, andererseits aber für politische und ideologische Zwecke eingesetzt hat. Dank der oben erwähnten Zweiteilung gelingt es, sowohl den eigentlichen historischen Wert des Schriftguts aus dem Archiv des mittelalterlichen Rigaer Rats darzustellen als auch die Verluste zu erklären. Überzeugend fällt das abschließende Kapitel Überlieferung als Transformation aus, in dem die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst werden. Eine Fülle an Information bieten die Anhänge, wobei besonders wertvoll für die künftige Forschung die Publikation des Findbuchs des Urkundendepots des Rigaer Rates aus dem Jahr 1507 und seine Konkordanz mit den heutigen Beständen (mit Signaturen) und Editionen ist.

Im Laufe der Jahrhunderte – dank dem geringen Gebrauchswert, der Nachlässigkeit, dem menschlichen Versagen und Bränden – ist viel Schrifttum des Rigaer Rates verlorengegangen. Die Verfasserin geht den Spuren dieser Verluste nach und zeigt zum ersten Mal in der Ganzheit, was für historische Schätze das Archiv früher besaß. Mit Sachkenntnis werden die Leistungen der einzelnen Rats-, bzw. Stadtarchivare dargestellt und gewürdigt (1882 wurde das Ratsarchiv ins Stadtarchiv umgewandelt) sowie die Bedingungen, unter jeder von ihnen arbeiten müsste, charakterisiert. Es wird deutlich, dass das Schicksal eines einzelnen Archivs, wenn es mit Expertenwissen dargestellt wird, nicht nur als ein Stück Verwaltungsgeschichte erscheint, sondern auch zu einem unerwartet fesselnden Gegenstand verdichteter politischer und sozialer Geschichte und der Kulturgeschichte einer Stadt und des ganzen Landes werden kann. Dabei kommen die verschiedenen Perspektiven – die deutsche, die lettische und die russische – nicht zu kurz.

Das Buch von Madlena Mahling ist auf hohem wissenschaftlichen Niveau geschrieben und verdient höchste Anerkennung. Der methodische Zugriff und die Konzeption sind gut begründet und überzeugend. Beachtet wird sämtliche wichtige Fachliteratur zur Geschichte des Rigaer Ratsarchivs, seines Schriftguts und zum Archivwesen Lettlands in verschiedenen Sprachen, was durch die ausgezeichneten Lettisch- und Russischkenntnisse der Verfasserin ermöglicht wurde (nur als Muttersprachler erkennt man einige wenige Fehler in der Rechtschreibung der lettischen Namen). Sogar die Handschriften älterer lettischer Forscher wie beispielsweise Roberts Malvess, Jānis Straubergs und Rūdolfs Šīrants, auf die selbst die örtlichen Forscher nicht in allen Fällen zurückgreifen, werden mit Sachkenntnis einbezogen.

Besonders hervorzuheben ist die sehr detaillierte Kenntnis des Originalmaterials aus dem Staatlichen Historischen Archiv Lettlands und der bisherigen Quelleneditionen, deren Qualität aus der Perspektive des editorischen Standards ausgewertet wird. Madlena Mahling vergleicht die zahlreichen Veröffentlichungen von Quellen mit den Originalen, entdeckt, erklärt und korrigiert Fehler und polemisiert mit einzelnen Forschern und Herausgebern über wichtige Details. In vielerlei Hinsicht – nicht nur in Bezug auf das Archivwesen Lettlands, sondern auf zahlreiche Fragen der Geschichte Rigas und des Baltikums – gibt das Buch Anstoß für weitere Forschung.

Die grundlegende Charakteristik der Bestände und zahlreiche Hinweise bis hin zu einzelnen Signaturen werden den Benutzern der Quellen des ehemaligen Rigaer Ratsarchivs die Forschungsarbeit wesentlich erleichtern – umso mehr, weil ein gedruckter Archivführer bis heute fehlt. Bei jeder künftigen Forschung zur älteren Geschichte Rigas wird man an dieser Arbeit nicht vorbeikommen.

Ilgvars Misāns, Riga

Zitierweise: Ilgvars Misāns über: Madlena Mahling: Ad rem publicam et ad ignem. Das mittelalterliche Schriftgut des Rigaer Rats und sein Fortbestand in der Neuzeit. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2015. XIV, 474 S. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 33. ISBN: 978-3-87969-398-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Misans_Mahling_Ad_rem_publicam.html (Datum des Seitenbesuchs)

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