Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 150-151

Verfasst von: Florian Mildenberger

 

Igor J. Polianski: Das Schweigen der Ärzte. Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik. Stuttgart: Steiner, 2015. 439 S., 55 Abb. = Kultur­anamnesen. Schriften zur Geschichte und Philosophie der Medizin und der Naturwissenschaften, 8. ISBN: 978-3-515-11005-1.

Das Gespenst der „Sowjet-Medizin“ beschäftigte über Jahrzehnte nicht nur sowjetische Bürger und Akteure des Gesundheitsmarktes, sondern eventuell noch mehr westliche Beobachter. Das Schreckensbild einer ideologisch überladenen Heilkunde verstörte nicht nur Zeitgenossen der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern erschien vielen vom Kapitalismus enttäuschten und vor den Nationalsozialisten fliehenden Gelehrten als ein Symbol moderner Herrschaft. Insgesamt vernebelten Begriffe, Träume und Wahnvorstellungen auch vielen Historikern eine klare Sichtweise auf die Medizin in der Sowjetunion. Der Ulmer Medizinhistoriker Igor J. Polianski lüftet in seiner Habilitationsschrift den Schleier über diesem Komplex und macht zugleich deutlich, wie eng Medizin und Herrschaft in einem totalitären System verbunden bzw. aneinander gekettet waren. Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert, die sich chronologisch von 1917 bis in die frühen neunziger Jahre erstrecken. In der Einleitung schildert Polianski offen die Probleme, die sich ihm bei der Erforschung der „Sowjet-Medizin“ stellten: Schwierigkeiten in der Anwendung westlicher Analysemodelle, diffuse Quellenlage, Widersprüchlichkeiten des Systems und die Ignoranz vieler (Medizin)historiker gegenüber der Geschichte und Realität sozialistischer Gesundheitssysteme.

Entgegen landläufiger Meinungen und der Selbstdarstellung sowjetischer Planer gründeten die Vorstellungen einer „sozialistischen Medizin“ nicht allein auf revolutionären Überlegungen, sondern auch den Vorarbeiten zaristischer Theoretiker, die sogar in der Sowjetunion ihre Karriere fortsetzten. Dabei waren Lenin und seine Mitstreiter bemüht, die ihrer Ansicht nach „bürgerlichen“ Ärzte mit ihrem überkommenen Standesbewusstsein und staatlichen Akteuren vorenthaltenen Wissen („Arztgeheimnis“) zu bloßen Handlangern des Proletariats zu degradieren. Bereits in den zwanziger Jahren mussten die sowjetischen Planer erkennen, dass dies vor allem dazu führte, dass Ärzte ihre Tätigkeit einschränkten und das Medizinstudium erheblich an Beliebtheit verlor. Mit Entscheidungen unzufriedene Patienten griffen bisweilen zum Knüppel oder zur Schusswaffe, um gewünschte Diagnosen oder Kuraufenthalte zu erzwingen. Parallel lief die sowjetische Gesundheitspropaganda hochtourig im Leerlauf: Da die keinesfalls flächendeckend vorhandenen Ärzte als Kontrollorgan von der Politik vernachlässigt wurden, interessierte sich niemand für einen gesunden Lebensstil, den Ärzte bewerben sollten. Die Abtreibung war gestattet, Homosexualität wurde nicht verfolgt, aber schon bei der Betreuung von Geschlechtskranken verhakten sich ideologische Theorien und soziale Realität. Eine erste Wende erfolgte am Ende der zwanziger Jahre, als die Ära der Fünfjahrespläne einsetzte und Staat und Partei erstmals in der jungen sowjetischen Geschichte die Ärzte nicht mehr als obskure Geheimnisträger, sondern als wertvolle Verbündete wahrnahmen. Im Kampf gegen „Rechts-“, „Links-“ und „Trotzkisten-Abweichler“ in den dreißiger Jahren veränderten sich auch Handlungs- und Wissenschaftstheorien der Medizin. Polianski schildert anschaulich, wie die Verfolgungsmechanismen im Stalinismus die Medizin beeinflussten: Lysenkos Biologie eliminierte die Genetik(er), machte aber auch deutlich, dass im Hier und Jetzt der Schlüssel zur Schaffung der künftigen Gesellschaft lag. Die Verschmelzung von Körper und Geist im Materialismus machte es notwendig, Spezialisten heranzuziehen, denen ein gewisses Maß an Handlungsfreiheit zugebilligt wurde, wenn sie ideologisch gefestigt erschienen. Dies ermöglichte den zuvor als „Feinde des Proletariats“ geschmähten Ärzten den Wiederaufstieg an die Spitze der naturwissenschaftlichen Forschergemeinschaft. Nach Kriegsbeginn 1941 verstärkte sich dieser Trend, als die Relevanz von chirurgisch und rehabilitativ versierten Ärzten erheblich zunahm. Von dem in diesen Jahren gewonnenen Nimbus als „Retter des sozialistischen Vaterlandes“ zehrten die sowjetischen Ärzte bis zum Untergang des Systems. Zugleich bekamen sie mit der vereinfachten Lehre Ivan P. Pavlovs (1849–1936) ein zentrales Handlungsinstrument übergestülpt. Dabei waren die Ärzte in ihrer Gesamtheit immer wieder kollektiven Verfolgungen und Unterstellungen ausgesetzt, z.B. in der letzten stalinistischen Verfolgungswelle ab Ende 1952, die sich explizit gegen eine halluzinierte „Ärzteverschwörung“ richtete. Polianski schildert aber auch die Nebeneffekte dieser Propagandaschlacht: Kein Politkommissar deckte die „Ärzteverschwörung“ im Sinne der Propaganda auf, sondern eine junge, kommunistische Ärztin, die sich gegen die „alten Männer“ im weißen Kittel auflehnte. Und die übrige Ärzteschaft, organisiert in Fachgesellschaften? Stets herrschte Schweigen zu jeder neuen ideologischen Wendung, wie Polianski deutlich macht. Scheinbar stimmten die Ärzte dem System grundsätzlich zu, hatten ihre Rolle gefunden. Dass dem nicht so war, zeigte sich spätestens im Jahre 1988, als im Rahmen der Perestroika die Gründung privater Arztpraxen und Polikliniken genehmigt wurde. Quasi über Nacht verließen die Ärzte die staatlichen Einrichtungen und stürzten das sowjetische Gesundheitssystem in eine finale Krise: die Unzufriedenheit der Bevölkerung nahm rapide zu, die Sowjetunion kollabierte. War das die Rache der Ärzte für 70 Jahre Gängelung, Bevormundung und Verfolgung oder eher eines von vielen Symptomen des mit der modernen Welt überforderten sozialistischen Systems? Polianski stimmt eher der letzteren Sichtweise zu. Denn wirkliche Rebellion lag den sowjetischen Ärzten stets fern. Das sowjetische Gesundheitssystem war bereits in den siebziger Jahren dem Kollaps nahe. Wenn die Parteiführung es wünschte, erwiesen sich sowjetische Ärzte als willfährige Vollstrecker ideologischen Willens, z.B. im Rahmen der Zwangspsychiatrisierung von Dissidenten. Schweigen und Weitermachen waren die zentralen Aspekte ärztlicher Ethik in der Sowjetunion.

Polianski beschränkt sich in seiner Untersuchung nicht auf Archivquellen, staatliche Verlautbarungen und wegweisende Publikationen, sondern bezieht auch populäre Darstellungen und die Literatur in seine Darstellung ein. So wird deutlich, dass der Arzt als „Müllmann der Gesellschaft“ in der sowjetischen Volkskultur fest verankert war.

Kritisch bleibt anzumerken, dass die Lesefreundlichkeit des Buches aufgrund vieler Querverweise und unter dem Fehlen eines Registers leidet. Zu einigen Spezialthemen (z.B. der homosexuellen Emanzipation in den zwanziger Jahren) wurde die neueste Forschungsliteratur nicht verwendet. Alternative Heilweisen, ihre Bekämpfung und ihre Verankerung in der sowjetischen Bevölkerung werden so gut wie nicht erwähnt. Im Ganzen jedoch handelt es sich bei der vorliegenden Studie um ein wichtiges und bedeutsames Werk, dem eine breite interdisziplinäre Rezeption zu wünschen ist.

Florian G. Mildenberger, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Florian Mildenberger über: Igor J. Polianski: Das Schweigen der Ärzte. Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik. Stuttgart: Steiner, 2015. 439 S., 55 Abb. = Kulturanamnesen. Schriften zur Geschichte und Philosophie der Medizin und der Naturwissenschaften, 8. ISBN: 978-3-515-11005-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mildenberger_Polianski_Das_Schweigen_der_Aerzte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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