Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 487-489

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Vene impeerium ja Baltikum. Venestus, rahvuslus ja moderniseerimine 19. sa­jan­di teisel poolel ja 20. sajandi alguses. 2 [Das Russische Reich und das Baltikum. Russifizierung, Nationalismus und Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. II]. Koostanud Tõnu Tannberg / Bradley Woodworth. Tallinn: Ajalooarhiiv, 2010. 378 S., Tab. = Eesti Ajalooarhiivi Toimetised. Acta et Commentationes Archivi Historici Estoniae, 18 (25). ISBN: 978-9985-858-67-7.

Der zu besprechende Band ist der zweite Teil eines Sammelwerkes, das die Spätphase der zarischen Herrschaft in den Ostseeprovinzen insbesondere auf dem späteren Territorium Estlands thematisiert und in diesem Zusammenhang vor allem auf die im Titel genannten Entwicklungen von Russifizierung, Nationalismus und Modernisierung eingeht. Diese Veröffentlichung belegt, dass der imperial turn auch in Estland angekommen ist. In älteren Untersuchungen zu diesem Themenkreis stößt der Leser entweder auf eine deutschbaltisch, sowjetisch oder estnisch- bzw. lettisch-national geprägte Sichtweise. Doch die estnische Geschichtsschreibung hat längst begonnen, sich von den alten Paradigmen zu lösen und internationale Entwicklungen aufzugreifen. Dies spiegelt sich auch in den Beiträgen wider. Die beiden Herausgeber, Tõnu Tannberg aus Tartu und Bradley Woodworth aus New Haven, haben alles in allem eine gute Arbeit geleistet. Alle Beiträge sind mit einer längeren englischsprachigen Zusammenfassung versehen, was die Lektüre bei schwächeren Estnischkenntnissen erleichtert, und es lassen sich nur relativ wenige Fehler oder Stilblüten finden.

Zum Konzept dieser Schriftenreihe des Estnischen Historischen Archivs gehört es, bereits publizierte, programmatische Beiträge internationaler Autoren in Übersetzung dem estnischen Lesepublikum vorzustellen. In diesem Fall handelt es sich um Aufsätze von Gregory Vitarbo und Mark von Hagen zu Problemen von Nationalismus und Nationalitätenpolitik in der zarischen Armee. Auf diese Aufsätze wird in der vorliegenden Rezension nicht weiter eingegangen, doch sie passen gut in das Konzept des Bandes.

Die beiden Herausgeber stellen nur eine sehr knappe Einleitung an den Anfang, da sie im ersten Band bereits ausführlich in die Thematik eingeführt haben. Indrek Kiverik untersucht im ersten Beitrag detailliert die Bemühungen des Staates, Russisch als Verwaltungs- und Bildungssprache in den Ostseeprovinzen durchzusetzen. Diese waren ein Bestandteil der Reformen zur Unifizierung und Modernisierung des Reiches und stießen auf einen passiven Widerstand der tonangebenden deutschbaltischen Oberschicht. Die höheren Staatsbeamten wollten durch das Russische einerseits ihre Position in den baltischen Provinzen stärken, aber andererseits auf keinen Fall die Stellung des örtlichen Adels unterminieren. Die Reformen wurden von lokalen Institutionen wie den Ritterschaften verschleppt, und im administrativen Bereich war die Russifizierung erfolgreicher als im Bildungssystem.

Sirje Tamul untersucht in ihrer Fallstudie die Geschichte der Universität Dorpat/Jur’ev (Tartu) im Zeitraum von 1882 bis 1918 und beschreibt ausführlich sowohl die 1889 einsetzende Russifizierung dieser ursprünglich einzigen deutschsprachigen Hochschule des Zarenreichs als auch die weitere Entwicklung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Leider ist dieser Aufsatz recht deskriptiv. Mit den deutschbaltischen studentischen Verbindungen dieser Universität und ihren Beziehungen zu anderen sozialen oder ethnischen Gruppen unter den Studenten von den zwanziger bis zu den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzt sich der spannende Beitrag von Toomas Hiio auseinander. Er führt den Leser in die eher unbekannte Welt einer multiethnischen osteuropäischen Universität des 19. Jahrhunderts. An dieser bildeten neben den Deutschen Russen, Polen, Juden, Letten und Esten die größten Gruppen, zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlichen Proportionen, und das in einer Zeit, als sich nationale Identitäten herausbildeten. Es gab sowohl Konflikte und Spannungen als auch ein friedliches Nebeneinander.

Kadri Tooming behandelt den Einfluss der Kolonisationspolitik des Reiches, vor allem in Sibirien, auf die Bauernschaft in Nordlivland um die Jahrhundertwende. Im Jahr 1918 lebten immerhin schon 40.000 Esten als Siedler in Sibirien, das waren vier Prozent aller Esten. Hierbei untersucht die Autorin ebenso den legalen Rahmen und die Bemühungen der Verwaltung wie auch die Auswanderungsnetzwerke der Bauern. Kersti Lust geht auf die Einstellung südestnischer Bauern zum Landkauf in den Jahren von 1863 bis 1882 ein. Aus Pächtern konnten nun nach Gesetzesreformen Eigentümer werden. Sie widerlegt die Vorstellung, die Bauern seien grundsätzlich skeptisch gewesen, und zeichnet auf breiter Quellenbasis Haltungen und Handlungsstrategien von Bauern nach. Wie die Bauernwirte ihre erworbenen Höfe dann um die Jahrhundertwende vererbten, untersucht Ülle Tarkiainen.

Toomas Karjahärm beleuchtet die Diskussion um die mögliche Einführung einer Zemstvo-Verwaltung anstelle der ständisch geprägten Selbstverwaltung, die in den baltischen Provinzen von den deutschbaltischen Ritterschaften dominiert wurde. Estnische und lettische Kreise erhofften sich in der lokalen Politik mehr Mitsprachemöglichkeiten, möglicherweise gar die Gleichberechtigung mit den Deutschbalten. Doch letztlich wurden bis zur Februarrevolution keine tiefgreifenden Reformen der Selbstverwaltung im Baltikum umgesetzt und Esten wie Letten verblieben in einer Position der Diskriminierung. Karjahärm sieht als Ursache des Scheiterns der administrativen Modernisierung die Unfähigkeit der Zentralregierung, zu einem tragfähigen Übereinkommen mit den lokalen Interessenvertretern zu gelangen.

Im hochinteressanten Abschlussbeitrag kritisiert Karsten Brüggemann den Begriff „Rus­sifizierung“ als ein strittiges Forschungsparadigma in der baltischen Geschichte und greift dabei ältere Kritik an dem Terminus auf. In den westlichen Grenzgebieten des Reiches sei die Politik einer „Russifizierung“ gescheitert, so Brüggemann. Im Gegenteil, im Baltikum können wir in diesem Zeitraum eher von einer Estnisierung und Lettisierung sprechen sowie von einer Stärkung der nationalen Identitäten. Ob „Russifizierung“ nun administrative, sprachliche, kulturelle oder religiöse Praktiken meinte, war keineswegs eindeutig. Auch die Zeitgenossen verfügten über verschiedene Interpretationen für den äußerst komplex verwendeten Begriff. Zwar steigerte das Reich seine Präsenz in den baltischen Provinzen, aber „Russifizierung“ war kein zentrales Ziel der Politik. Am Wirkungsvollsten war wohl die „mentale Russifizierung“ der Ostseeprovinzen; sie wurden im Laufe der Zeit immer stärker als die „unsrigen“ angesehen.

Insgesamt bietet dieser Band viel Neues insbesondere in der Diskussion um die Russifizierung, was auch daran liegt, dass die meisten Autoren umfangreiche Archivrecherchen angestellt haben. Einige Aufsätze sind mit jeweils über fünfzig Seiten etwas zu lang und gehen zu sehr ins Detail, doch dem sehr positiven Gesamteindruck leistet dies keinen Abbruch. Es wäre jedenfalls wünschenswert, wenn die besten Beiträge auch einen Weg in eine allgemeiner zugängliche Sprache fänden.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Vene impeerium ja Baltikum. Venestus, rahvuslus ja moderniseerimine 19. sa­jan­di teisel poolel ja 20. sajandi alguses. 2 [Das Russische Reich und das Baltikum. Russifizierung, Nationalismus und Modernisierung in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. II]. Koostanud Tõnu Tannberg / Bradley Woodworth. Tallinn: Ajalooarhiiv, 2010. 378 S., Tab. = Eesti Ajalooarhiivi Toimetised. Acta et Commentationes Archivi Historici Estoniae, 18 (25). ISBN: 978-9985-858-67-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Tannberg_Vene_impeerium_ja_Baltikum.html (Datum des Seitenbesuchs)

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