Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 662-663

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Mirosław Sikora: Die Waffenschmiede des „Dritten Reiches“. Die deutsche Rüstungsindustrie in Oberschlesien während des Zweiten Weltkrieges. Essen: Klartext, 2014. 591 S., zahlr. Abb., 27 Tab. = Bochumer Studien zur Technik- und Umweltgeschichte, 3. ISBN: 978-3-8375-1190-1.

Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Studie von Mirosław Sikora aus dem Polnischen übertragen wurde, und die Übersetzung selbst kann als gelungen bezeichnet werden. Allerdings erfolgte sie erst sieben Jahre nach der Erstveröffentlichung und der Text hätte zumindest um die neuere Literatur ergänzt werden sollen. Auf einer breiten Grundlage an Quellen aus polnischen und deutschen Archiven, insbesondere der deutschen Rüstungsverwaltung und einzelner Unternehmen, sowie einer stellenweise veralteten Auswahl an Literatur untersucht Sikora die Bedeutung der Rüstungsindustrie Oberschlesiens im Zweiten Weltkrieg. Er geht dabei stellenweise sehr deskriptiv vor und verliert sich derart in Details, dass der Leser mitunter die Orientierung verliert. Dies liegt jedoch nicht an der Qualität der Übersetzung, sondern eindeutig an der Darstellungsweise des Autoren, dem offenbar die Fragestellungen der modernen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte fremd sind. Er liefert zwar eine Unzahl von Statistiken, Grafiken und Zahlen, doch bei deren Interpretation hapert es eindeutig.

Sikora möchte in erster Linie untersuchen, wie die Region Oberschlesien in die Rüstungsproduktion des Reichs eingebunden wurde und welchen Anteil sie an der Produktion hatte. Dies führt zu einer langen Auseinandersetzung mit der Organisationsgeschichte, also der Darstellung, welche Institutionen zu welchem Zeitpunkt Einfluss ausübten, und zu einer endlosen Aufzählung von Output-Zahlen. Ziel eines Unternehmens ist es, Gewinn zu machen. Die Rentabilität von Betrieben klammert der Autor aber ausdrücklich aus der Untersuchung aus, ebenso wie finanzielle Transaktionen oder soziale Aspekte. Sicherlich ist die Quellenlage schwierig, aber auf diese Art und Weise ignoriert Sikora grundlegende Fragestellungen einer modernen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Gewinne, Investitionen, die Produktivität der Arbeitskräfte, Subventionen, die Preispolitik, die Effizienz der Betriebe, mögliche Lerneffekte, das Wirtschaften unter inflationären Bedingungen und unter den Einschränkungen des Krieges usw. kommen in dieser Monographie nur am Rande vor oder gar nicht. Fragen der Corporate Governance oder der Institutionenökonomie, welche die Unternehmensgeschichte in den letzten Jahren umgetrieben haben, sind ebensowenig vertreten. Die Arbeiter, ob freie, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Frauen oder Jugendliche, treten einzig als bloße Zahlen in Erscheinung.

Das Werk ist in fünf Kapitel gegliedert, die in der Länge zwischen neun und 165 Seiten variieren. Diese Kapitel orientieren sich eher an einzelnen Themen, und die Gliederung ist somit nicht streng chronologisch. Im ersten Kapitel referiert Sikora zumeist aus der Literatur über die Organisation der deutschen Rüstungsproduktion und ihre Akteure. Doch dies ist in der Forschung inzwischen recht gut bekannt, und der Verfasser vertritt auch manchen eher veralteten Standpunkt, zum Beispiel bezüglich der Rolle des sogenannten Blitzkriegs bei der Entwicklung der Rüstungsproduktion. Erst im zweiten Kapitel ab Seite 79 geht es wirklich um Oberschlesien, nämlich um die administrative und ökonomische Eingliederung der polnischen Gebiete seit 1939, die Regelung der Eigentumsverhältnisse in der Industrie und die Entstehung größerer Rüstungsunternehmen. Westdeutsche Unternehmen sind nicht im größeren Stil in Oberschlesien eingestiegen, sondern häufiger wurden ehemals in polnischem Besitz befindliche Betriebe von deutschen Unternehmen aus der Region übernommen.

In Kapitel 3 untersucht Sikora die Bedeutung des oberschlesischen Industriereviers im Rahmen der deutschen Kriegswirtschaft. Lag das Gebiet anfangs noch in der Peripherie, so nahm seine Rolle wegen des Bombenkriegs gegen weiter westlich gelegene Zentren im Kriegsverlauf deutlich zu, und es wurden auch Betriebe dorthin verlagert. 1944 war Oberschlesien in bestimmten Bereichen der Rüstungsproduktion schon von zentraler Bedeutung. Dieses Kapitel bildet zusammen mit dem vierten den Kern der Arbeit und beruht auf umfangreichen Archivrecherchen. Doch leider beginnen hier die Probleme. Der Autor neigt zu langen Aufzählungen, geht zu sehr ins Detail, und der Leser beginnt bei all den Personen und Unternehmen den roten Faden zu verlieren. Angaben zu Umsätzen und Investitionen werden beispielsweise so willkürlich aneinandergereiht, dass man daraus kaum sinnvolle Schlüsse ziehen kann.

Das vierte Kapitel versucht nun die Rüstungsproduktion zu quantifizieren, und an dieser Stelle riss dem Rezensenten der Geduldsfaden. Die Aneinanderreihung von Produktionszahlen für verschiedene Waffengattungen und Munitionstypen auf weitaus mehr als hundert Seiten ist unerträglich zu lesen. Es fehlen der Kontext und die Analyse, und die Daten hätten aggregiert werden müssen. Es kommt einfach das Gefühl auf, dass der Autor sein ganzes, in mühsamer Archivarbeit zusammengetragenes Material ausbreiten möchte. Jedoch ist der Erkenntnisgewinn am Ende dann eher gering, wenn die Informationen nicht angemessen interpretiert werden und der Text sich im Nebensächlichen verliert.

Im fünften und kürzesten Kapitel behandelt Sikora kursorisch die Endphase bis zum Einmarsch der Roten Armee, als die Betriebe dann zeitweilig direkt an die in der Nähe liegende Front liefern konnten. Ein Schlusswort und eine knappe Zusammenfassung runden die Darstellung ab. Der Anhang ist umfangreich und ergänzt den Inhalt, allerdings ist fragwürdig, ob noch weitere Produktionsdaten auf Dutzenden von Seiten wiedergegeben werden müssen.

Es gibt wohl zahlreiche Studien zur deutschen Rüstungswirtschaft im Zweiten Weltkrieg, doch nur wenige behandeln einzelne Regionen. Von daher liefert die vorliegende Untersuchung eine gewisse Erweiterung. Ebenso bietet sie eine willkommene Ergänzung zur Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens. Zu begrüßen ist auch, dass so viele Archivmaterialien erschlossen wurden, ob deutscher oder polnischer Herkunft. Trotzdem hinterlässt das Werk wegen seines deskriptiven Charakters, des Mangels an Analyse und Vergleich sowie wegen der teilweise nur schwer lesbaren Darstellungsform einen mehr als zwiespältigen Eindruck. Wirklich empfehlen mag man deshalb Sikoras Arbeit nicht. Der Text hätte vor der Übersetzung gründlich überarbeitet und gestrafft werden müssen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Mirosław Sikora: Die Waffenschmiede des "Dritten Reiches". Die deutsche Rüstungsindustrie in Oberschlesien während des Zweiten Weltkrieges. Essen: Klartext, 2014. 591 S., zahlr. Abb., 27 Tab. = Bochumer Studien zur Technik- und Umweltgeschichte, 3. ISBN: 978-3-8375-1190-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Sikora_Die_Waffenschmiede_des_Dritten_Reiches.html (Datum des Seitenbesuchs)

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