Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 692-693

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Rikako Shindo: Ostpreußen, Litauen und die Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik. Wirtschaft und Politik im deutschen Osten. Berlin: Duncker & Humblot, 2013. 888 S., 13 Abb., 3 Ktn., 1 Tab., 1 Graph. = Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 45. ISBN: 978-3-428-13823-4.

Es gibt drei Wege, diese umfangreiche und dennoch gekürzte Dissertation aus der Feder von Rikako Shindo zu lesen. Der schwierigste ist, dies von Anfang bis Ende zu tun. Am sinnvollsten erscheint die Lektüre von Einleitung, Schluss sowie jenen Unterkapiteln, für die sich der Leser interessiert. Auch kann dieses Werk einfach zum Nachschlagen beispielsweise über einzelne Handelsabkommen genutzt werden. Dies liegt nicht an einem schlechten Schreibstil der Verfasserin; ihr ist höchstens vorzuwerfen, damalige, abwertende Ausdrücke wie Randstaaten, Pufferstaaten und Oststaaten ohne Anführungszeichen zu verwenden. Nein, die Ursachen sind der Aufbau der Arbeit und die Präsentation der Themen.

Der Titel lässt manches vermuten, doch es handelt sich weder um eine politische und wirtschaftliche Geschichte Ostpreußens in der Zeit der Weimarer Republik, noch um eine Geschichte der Beziehungen Ostpreußens zu Litauen und der UdSSR im Untersuchungszeitraum. Stattdessen stellt die Autorin dar, wie ostpreußische Politiker, in erster Linie der Oberpräsident, sowie Wirtschaftskreise versuchten, die aus dem Versailler Vertrag entstandene missliche Situation ihrer Provinz zu überwinden. In diesem Zusammenhang behandelt Shindo vor allem politische Pläne für Ostpreußen wie den Oststaatsplan, die Unterstützung aus dem Reich in Form der Ostpreußenhilfe und ähnliche Maßnahmen, Königsberger Initiativen sowie handelspolitische Verhandlungen mit Litauen und der UdSSR.

Vor dem Leser werden Denkschriften, Entwürfe, Protokolle von Vertragsverhandlungen, internationale Abkommen usw. ausgebreitet, während der historische Rahmen deutlich zu kurz kommt. Beispielsweise wird die deutsche Inflation nur ein einziges Mal erwähnt und zwar im Zusammenhang mit den negativen Folgen ihres Endes (S. 152). Dabei handelte es sich um eine der einschneidendsten politischen und wirtschaftlichen Vorgänge der Weimarer Ära. Wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen werden nur am Rande behandelt. Sozial- oder kulturgeschichtliche Zugänge fehlen komplett. Als Historiker trifft man gewöhnlich im Archiv auf umfangreiches bürokratisches Material, ob dieses aber in der gesamten Breite für den Leser von Interesse ist, erscheint als fragwürdig.

Die Autorin hat tatsächlich intensiv im Archiv gearbeitet und ebenso zahlreiche Dokumentenpublikationen herangezogen. Auch ist die Liste der verwendeten Literatur lang, allerdings nutzt sie fast ausschließlich deutschsprachige Titel, selbst englischsprachige sind eine Seltenheit. Deshalb schreibt sie praktisch nur aus einer deutsch-ostpreußischen Perspektive. Ihre Kenntnisse der litauischen Geschichte beispielsweise sind so lückenhaft, dass selbst der Ablauf der Staatsgründung falsch wiedergegeben wird (S. 59).

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges befand sich Ostpreußen als Exklave tatsächlich in einer prekären Lage. Der wichtige Import von Getreide, Holz und Hülsenfrüchten aus dem Osten war weggebrochen, die Provinz war durch einen „Korridor“ isoliert, die Grenzziehung anfangs unklar und die politische Situation in der Region unstabil. Für die agrarisch geprägte Region mit einem hohen Anteil unrentabler Kleinbauernstellen waren die wirtschaftlichen Probleme enorm. Die Autorin konzentriert sich in erster Linie darauf, wie diese Probleme durch Verhandlungen mit dem Reich und den Nachbarn gelöst werden sollten. Wichtig waren eine Wiederbelebung des Außenhandels und günstige Bedingungen für den Eisenbahnverkehr und die Binnenschifffahrt. Nach Auffassung des Rezensenten geht die Autorin jedoch zu sehr auf die bürokratischen und juristischen Aspekte dieser Unternehmungen ein und behandelt viel zu wenig den politischen oder ökonomischen Rahmen. Ihr gelingt es allerdings wohl zu belegen, dass Ostpreußen eben nicht ein „ostelbisches Junkerland“ war und zahlreiche eigene Initiativen wie die Einrichtung einer Ostmesse an den Tag legte. Die Lage Ostpreußens blieb jedoch heikel, denn der Handel mit dem Osten konnte nicht im erhofften Umfang wiederbelebt werden, die Verkehrsverbindungen waren problematisch und die Landwirtschaftskrise in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre sowie die Weltwirtschaftskrise trafen die Provinz hart.

Die Stärke des Werkes und für den Leser gleichzeitig eine Schwäche liegt darin, wie sehr die Autorin auf teilweise wenig untersuchte Themen wie ein deutsch-sowjetisches Eisenbahnabkommen oder die zweimaligen deutsch-litauischen Verhandlungen über einen Handelsvertrag eingeht und dabei stets auch die Verbindung zur Provinz Ostpreußen herstellt. Wer zu solchen Fragen nachschlagen möchte, findet in diesem Werk die nötigen Informationen, die oftmals auf der Basis von unveröffentlichten Dokumenten erarbeitet sind. Als lobenswert erscheint auch, wie Shindo beispielsweise die Memelkrise und den Konflikt um Vilnius/Wilno in ihre Untersuchung miteinbezieht. In diesem Werk steckt wirklich sehr viel Forschungsarbeit. Allerdings würde erst eine Kürzung des Textes um mehr als die Hälfte und eine anschließend Erweiterung um den historischen und wirtschaftlichen Kontext ihn zu einer echten Leistung machen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Rikako Shindo: Ostpreußen, Litauen und die Sowjetunion in der Zeit der Weimarer Republik. Wirtschaft und Politik im deutschen Osten. Berlin: Duncker & Humblot, 2013. 888 S., 13 Abb., 3 Ktn., 1 Tab., 1 Graph. = Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 45. ISBN: 978-3-428-13823-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Shindo_Ostpreussen_Litauen_und_die_Sowjetunion.html (Datum des Seitenbesuchs)

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