Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 672-674

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Astri Schönfelder: Deutsche Bürger „contra homines novi“. Die städtischen Wahl­kämpfe in Estland 1877–1914. Hamburg: Kovač, 2016. 192 S., 6 Tab. = Hambur­ger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 22. ISBN: 978-3-8300-8556-0.

Es brauchte ganze 15 Jahre, bis die überarbeitete Fassung der Magisterarbeit Astri Schön­felders schließlich veröffentlicht wurde, doch es hat sich letztendlich gelohnt. Auf den ersten Blick mögen die Kommunalwahlen auf dem Gebiet des heutigen Estland, also im nördlichen Teil der russischen Provinzen Livland und in der Provinz Estland, in der späten Zarenzeit als ein nicht besonders spannendes Thema erscheinen, aber der Leser erfährt viel Neues nicht nur über estnische Geschichte, sondern auch über Zensuswahlen in einer multiethnischen Gesellschaft mit einer Oberschicht anderer Nationalität als die Mehrheitsbevölkerung. Damit bietet dieses Buch eine gute Vergleichsbasis für ähn­liche Studien in anderen europäischen Regionen, besonders natürlich für Österreich-Ungarn.

Grundlage für diese Untersuchung bilden zeitgenössische deutsch- und estnischsprachige Zeitungen aus dem Baltikum – nur eine einzige Archivquelle wurde konsultiert – und die Literatur, wobei die Verfasserin einige wenige Arbeiten, etwa eine neuere Stadtgeschichte Tartus (Dorpats), leider ausgelassen hat. Trotzdem erscheint die Quellen- und Literaturbasis als ausreichend für das Thema. Der Text ist gut lesbar geschrieben, und einige wenige sprachliche Schnitzer im Deutschen können der estnischen Autorin sicherlich verziehen werden. Nach einer ausgiebigen Einleitung breitet Schönfelder ihre Forschung in vier Kapiteln aus und schließt mit einer Zusammenfassung ab.

In den baltischen Provinzen des Russischen Reichs galt die aus dem Mittelalter stammende Städteordnung noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Demnach dominierte ein Rat die Stadt, dessen Mitglieder aus der Gilde der Kaufleute auf Lebenszeit gewählt wurden. Nur etwa 2 % der Einwohner waren überhaupt Mitglieder der Bürgerschaft, und die Handwerkers-Gilde bildete ein weiteres konstituierendes Element der Stadtverfassung. So verwundert es nicht, dass die Städte des Baltikums für fast 700 Jahre von Deutschen dominiert und regiert wurden. Die Einführung des russischen Stadtrechts von 1870 im Jahr 1877 brachte einen Wandel. Dieses war nach dem Vorbild der preußischen Stadtverordnung von 1853 modelliert. Durch die zuvor eingeführte Gewerbefreiheit waren Zünfte und Gilden bereits ihrer Aufgaben enthoben. Nun durften etwa 5 % der Einwohner, die Eigentums- und Gewerbesteuerzahler nämlich, wählen, allerdings nach einem Drei-Klassenwahlrecht. Das bedeutete natürlich, dass auch viele Deutsche über kein Wahlrecht verfügten. Auf die erste Kurie mit einem Drittel der Stimmen entfielen in Tallinn (Reval) 3 % der Wähler, die zweite Kurie repräsentierte etwa 12 % der Wahlberechtigten und die dritte den Rest. Das reichste Zehntel der Wahlberechtigten verfügte also über die Mehrheit der Stimmen. Zwar begünstigte dieses System die wohlhabenden Deutschen, doch erstmals nahmen auch in gewisser Anzahl Esten, Russen und Vertreter anderer ethnischer Gruppen an der politischen Willensbildung auf kommunaler Ebene teil. Dieser Prozess erfolgte parallel zu einem Rückgang des deutschen Bevölkerungsanteils in den estnischen Städten, zur Modernisierung, Urbanisierung und Industrialisierung.

Schönfelder gelingt es überzeugend anhand ihrer Quellen, diese Entwicklungen differenziert nachzuvollziehen. Sie gibt die verschiedenen Auffassungen und Stereotypen in der Presse wider, wählt ihre Zitate geschickt aus und zieht auch Vergleiche mit Österreich-Ungarn und Preußen. Allerdings wünscht sich der Leser auch einen intensiveren Vergleich mit anderen Regionen des Russischen Reichs. Die dargestellte ethnische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung Estlands ist teilweise etwas veraltet (S. 25), wahrscheinlich war der estnische Bevölkerungsanteil noch größer, weil viele zugewanderte Esten noch in ihrer ländlichen Heimatgemeinde registriert waren und nicht in ihrem neuen Wohnort, der Stadt. Auch konzentrierten sich viele Zuwanderer in den schnell wachsenden Vorstädten, gegen deren Eingemeindung sich die in den Innenstädten lebenden deutschen Stadtbewohner wandten. Das Absinken des deutschen Bevölkerungsanteils lag allerdings nicht nur an Überalterung, Auswanderung und geringerer Geburtenrate, sondern auch daran, dass sich im Zuge des „nationalen Erwachens“ germanisierte Esten, selbst solche mit deutscher Muttersprache, zunehmend zum Estentum bekannten.

Die Autorin untersucht drei Beispiele genauer, Tallinn, wo die Deutschen 1904 ihre führende Rolle in der Stadtverwaltung verloren, Tartu, wo sie ihre Position bis 1917 halten konnten, und die estnisch-lettische Stadt Valga/Valka (Walk), wo schon 1901 ein estnisch-lettisches Bündnis siegreich war. Über mehr als drei Jahrzehnte verfolgt sie die Wahlen und geht auch auf eine Reihe anderer Städte ein. Da die estnischen Wähler mit dem Drei-Klassen-Wahlrecht kaum eine Chance gegen die Deutschen hatten, sank ihre Wahlbeteiligung erheblich. Allerdings sollten die Kommunalwahlen nicht nur aus ethnischer Perspektive betrachtet werden, sondern auch aufgrund von Sachfragen, wie es Schönfelder überzeugend tut.

Die Reformen der Reichsregierung seit den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die oft nur unter dem Schlagwort „Russifizierung“ betrachtet werden, führten zu einer Modernisierung des städtischen Verwaltungsapparates in den baltischen Provinzen und mündeten in der neuen Städteordnung von 1892. Gemäß dieser Ordnung wurde der Vermögenszensus zwar erhöht – in Tallinn waren auf einmal nur noch 2,4 Prozent der Einwohner wahlberechtigt –, doch die Kurien wurden abgeschafft und somit waren alle Stimmen der Wahlberechtigten gleichwertig. In einer ganzen Reihe von Städten befanden sich estnische Wähler somit plötzlich in der Mehrheit. Deutsche Kommunalpolitiker versuchten mit Manipulationen, Tricks und Koalitionen ihre Position zu bewahren. Um die Jahrhundertwende war die Situation bereits sozial und national aufgeladen, ein modernes Medienwesen bildete sich heraus, die Revolution von 1905/06 erschütterte auch das Baltikum, und Parteiengründung wurde schließlich erlaubt.

Überzeugend kann die Verfasserin darlegen, dass die deutschen Kommunalpolitiker eher konservativ und rückwärtsgewandt agierten, während die estnischen deutlich fortschrittlicher waren, weil beide jeweils unterschiedliche soziale Gruppen repräsentierten. Es besteht eben ein Unterschied darin, eher für eine kleine Oberschicht zu stehen oder für die breite Mehrheit einschließlich der nicht Wahlberechtigten. In der Universitätsstadt Tartu, wo sich die Deutschen mit allerlei Manövern an der Macht hielten, wurde der Bau einer Pferdebahn genauso abgelehnt wie der einer flächendeckenden Kanalisation, die Vorstädte wurden vernachlässigt, dort lebten ja nur Esten und Russen, und der Alkoholverkauf nicht eingeschränkt. In Tallinn traten estnische und russische Kommunalpolitiker dagegen eine wahre Modernisierungswelle los. Weiterhin stellte die Kommunalpolitik für manch eine estnische Persönlichkeit die Vorbereitung auf höhere Ämter in der Republik Estland dar. Trotzdem stellte die Machtübernahme von Esten und Letten in baltischen Rathäusern keinen Bruch in der Kommunalpolitik dar, und das von deutschbaltischer Seite erwartete Chaos blieb aus.

Angenehm ist, wie differenziert die Autorin anhand ihrer Quellen argumentiert. Sie macht deutlich, dass beispielsweise im Tallinner Wahlkampf die wichtigste estnische Zeitung eben nicht gegen die Deutschen agitierte, sondern gegen die deutsche Oberschicht, die ja auch gegen die Interessen der „kleinen Leute“ unter den Deutschen handelte. Ebenso untersucht sie die verschiedenen Argumentationsmuster der deutschen Seite überzeugend.

Dieses kurze Büchlein liefert nicht nur einen Beitrag zur estnischen Geschichte, sondern auch wichtiges Vergleichsmaterial zu Wahlen und Kommunalpolitik in einer multiethnischen, imperialen Umgebung vor dem Ersten Weltkrieg. Ihm sind zahlreiche interessierte Leser zu wünschen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Astri Schönfelder: Deutsche Bürger „contra homines novi“. Die städtischen Wahlkämpfe in Estland 1877–1914. Hamburg: Kovač, 2016. 192 S., 6 Tab. = Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 22. ISBN: 978-3-8300-8556-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Schoenfelder_Deutsche_Buerger.html (Datum des Seitenbesuchs)

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