Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 516-519

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Tilman Plath: Zwischen Schonung und Menschenjagden. Die Arbeitseinsatzpolitik in den baltischen Generalbezirken des Reichskommissariats Ostland 1941–1944. Essen: Klartext, 2012. 502 S., Tab. ISBN: 978-3-8375-0796-6.

Diese auf breiter Quellen- und Literaturbasis verfasste Dissertation zum Arbeitseinsatz in den deutsch besetzten baltischen Staaten während des Zweiten Weltkrieges hat das Potenzial, zu einem Standardwerk zu werden. Der Autor Tilman Plath ist einerseits in der Lage, den Kenner der baltischen Zeitgeschichte durch unbekannte Tatsachen wie den Einsatz von „Ostarbeitern“ und evakuierten Russen, den sogenannten „Evarussen“, im Baltikum zu verblüffen, und vermag andererseits seine gut durchdachte und wohl strukturierte Arbeit auch für eine breitere Leserschaft, die sich für deutsche Okkupation und NS-Geschichte interessiert, attraktiv zu gestalten.

In seiner umfangreichen Einleitung entwirft der Autor den Rahmen seiner Arbeit und hält sich im nachfolgenden Text an seine Vorgaben, was oftmals ja nicht der Fall ist. Plath betont den menschenverachtenden Charakter der deutschen Arbeitseinsatzpolitik, bei dem es vor allem darum ging, den größtmöglichen Nutzen aus dem „Menschenmaterial“ zu gewinnen. Weiterhin war der Arbeitseinsatz im Falle von Juden oder Roma auch mit „Vernichtung durch Arbeit“ gepaart. Die bedeutendsten jüdischen „Arbeitslager“ waren das KZ Kaiserwald bei Riga und das KZ-System Vaivara im Ölschieferbecken in Nordostestland. Die landeseigenen Verwaltungen verfügten im Rahmen des Arbeitseinsatzes immerhin über gewisse Handlungsspielräume. Beständig kam es zu machtpolitischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen beteiligten Institutionen. Es galt auch eine Balance zwischen Rassenideologie und der Arbeitseinsatzpolitik zu halten. Der Autor sieht vor allem vier Parameter als wichtig an, auf die er in seinem Text immer wieder eingeht: 1. Die Frage des Ortes des Arbeitseinsatzes, ob im Reich oder vor Ort; 2. Die Art des Einsatzes, ob freiwillig oder zwangsweise; 3. Die Bedeutung der Rassenideologie, welche den „Wert“ der betroffenen Bevölkerung und eine mögliche Eindeutschung nach dem Krieg mit einbezog; 4. Die Bewertung der Durchsetzbarkeit dieser Arbeitseinsatzpolitik (S. 19–20).

Die deutsche Arbeitseinsatzpolitik war eindeutig improvisiert. Einen Einschnitt stellte das Scheitern des deutschen Vormarsches an der Ostfront Ende 1941/Anfang 1942 dar; nun wurden mehr und örtliche Arbeitskräfte benötigt. Das nach dem Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, benannte Sauckel-Programm sollte 1942 neue (Zwangs-)Arbeitskräfte ins Reich bringen. Es bestand stets ein gewisser Widerspruch zwischen Ökonomie und Ideologie sowie zwischen Planung und Umsetzung von Maßnahmen.

In einem ersten umfangreichen Kapitel beschäftigt sich der Verfasser mit den Akteuren der „Arbeitseinsatzpolitik“ im Baltikum, also den beteiligten Institutionen. Er stellt zuerst kenntnisreich die Struktur jeder Institution vor und geht dann auf deren Vorstellungen zum Ort des Arbeitseinsatzes ein, wobei sie sich gegen Ansprüche von außen zu wehren hatte. Dann analysiert er die Überlegungen zur Art des Arbeitseinsatzes, bevor er zu den rassenideologischen Zielvorstellungen kommt. Hierbei kann mitunter noch zwischen Nah- und Fernzielen differenziert werden. Schließlich fasst er das Verhalten der jeweiligen Institution zusammen. Für den wichtigsten Akteur hält Plath in diesem Zusammenhang die deutschen Zivilverwaltungen in den drei Generalbezirken, wenn sie auch eher „kraftlos“ agierten. An zweiter Stelle steht der Polizei- und Sicherheitsapparat, dessen Rolle im Laufe der Zeit an Bedeutung zunahm. Schließlich dienten zehntausende von Balten erst in Polizeibataillonen, und später gab es eigene Verbände der Waffen-SS für Esten und Letten. Die Polizei sorgte oftmals auch für die Umsetzung von Zwangsmaßnahmen, eben die im Titel angeführten Menschenjagden. An dritter Position verortet Plath die Wehrmacht, die baltische Hilfswillige und auch Panje-Fahrer einsetzte, an baltischen Arbeitskräften für die Rüstung interessiert war sowie an der Versorgung der Heeresgruppe Nord aus dem Baltikum. Der Autor rundet das Bild ab mit den unterschiedlichen Wirtschaftsbehörden und den landeseigenen Verwaltungen, die versuchten, eine antislawische Politik zu betreiben, also vor allem die slawischen Minderheiten für die Zwangsarbeit rekrutieren zu lassen.

Über die Reihenfolge der Institutionen ließe sich diskutieren, doch generell entwirft der Autor ein gelungenes Bild. Jedoch kommen bei seinem Ansatz die agierenden Persönlichkeiten wie der Reichskommissar Hinrich Lohse oder ein bestimmter Generalkommissar nicht sehr zu Geltung. Auf jeden Fall stand der Arbeitseinsatz für die Deutschen stets in Konkurrenz mit dem Wehr- oder Polizeidienst auf deutscher Seite, denn dieser wurde angemessen vergütet. Als Alternative bestand auch der Rückzug in eine Subsistenzwirtschaft auf dem Lande. Die Vorstellungen vom Arbeitseinsatz wandelten sich mit der Zeit, Pragmatismus und Ideologie konnten in starkem Widerspruch zueinander stehen.

Der Autor belässt es nicht bei den handelnden Institutionen, sondern er untersucht in seinem zweiten Großkapitel die Perspektive der vom Arbeitseinsatz Betroffenen. Hierbei nutzt der Verfasser eine chronologische Darstellungsweise, denn die Situation unterschied sich von Jahr zu Jahr. So herrschte 1941 noch Arbeitslosigkeit, oder die Front stand 1944 bereits so nahe, dass die Mobilisierung für den Fronteinsatz Priorität hatte. Am ausführlichsten geht er auf die baltische Mehrheitsbevölkerung ein, wobei er hier immer wieder zwischen dem Schicksal von Esten und Letten auf der einen Seite und Litauern, die als „rassisch“ weniger wertvoll galten, auf der anderen Seite unterscheiden muss. Auch innerhalb Lettlands wurde differenziert, wurde die Bevölkerung Lettgallens doch ebenfalls als „rassisch“ weniger wertvoll eingeschätzt. Die slawischen Minderheiten wie Russen, Polen und Weißrussen stehen an zweiter Stelle des Kapitels. Offiziell wurden sie gleich behandelt wie die Mehrheitsbevölkerung, tatsächlich jedoch wegen des Stereotyps der Illoyalität diskriminiert und häufiger zu Formen der Zwangsarbeit herangezogen. Erst die Aufstellung russischer Polizeibataillone führte zu einer gewissen Verbesserung der Lage. Anschließend geht Plath auf die Situation der sowjetischen Kriegsgefangenen ein: Balten und Ukrainer wurden freigelassen, die anderen litten unter massivem Hunger und es kam zu einem Massensterben in den Lagern. Erst die verzweifelte Lage an der Front führte zu ihrem Arbeitseinsatz und somit zu gewissen Verbesserungen. Ostarbeiter aus der ‚alten‘ Sowjetunion wurden ebenfalls im Baltikum eingesetzt und zwar zu deutlich schlechteren Bedingungen als die Einheimischen. Evakuierte Russen, die zumeist zwangsweise aus Partisanengebieten deportiert worden waren, stellten eine weitere Kategorie. Schließlich behandelt der Autor Juden und Roma. Der größte Teil des Holocaust hatte im Baltikum bereits 1941 stattgefunden; seit 1942 wurden Juden dann verstärkt zur Zwangsarbeit eingesetzt und es wurden schließlich sogar Juden aus anderen Regionen Europas ins Baltikum zum Arbeitseinsatz verbracht. Knapp untersucht der Verfasser auch die Rolle von Deutschen und anderen „Ariern“ beim Arbeitseinsatz.

Ein Fazit rundet die Arbeit ab. Lobenswert ist, dass der Verfasser sich stets bemüht, differenziert zu argumentieren. Er verfügt über eine hervorragende Kenntnis der Literatur und hat umfangreich in baltischen und deutschen Archiven zum Thema gearbeitet. Aufgrund seiner lettischen Sprachkenntnisse führt er wohl häufiger Beispiele aus Lettland an, doch weder Estland noch Litauen kommen zu kurz. Plath schreibt einen gut lesbaren Stil, hätte aber mitunter etwas weniger Fremdwörter gebrauchen sollen.

Der Rezensent sieht nur zwei wesentliche Kritikpunkte. Erstens ist der historische Überblick für die Zeit vor der deutschen Okkupation mit zweieinhalb Seiten viel zu kurz. Wer die baltische Zeitgeschichte kaum kennt, findet an dieser Stelle praktisch keine Orientierung oder wichtiges landeskundliches Wissen. Dies wäre aber nötig, um die baltischen Gesellschaften und ihr Verhalten unter deutscher Herrschaft besser verstehen zu können. Weiterhin spielte die Erfahrung der einjährigen sowjetischen Herrschaft eine Schlüsselrolle für die weitere Entwicklung.

Zweitens geht Plath viel zu wenig auf den wirtschaftlichen Rahmen in den baltischen Generalbezirken ein, doch die Ökonomie liefert die Bedingungen für den Arbeitseinsatz zumindest jener Gruppen, die nicht eindeutig wie die Juden als „rassisch minderwertig“ gebrandmarkt waren. Estland, Lettland und Litauen waren Agrarstaaten, in denen die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig war. Die Sowjets schädigten den Handel 1940–1941 durch Nationalisierung und Preiskontrollen enorm, sie hielten den Lebensstandard niedrig, beuteten die Bevölkerung aus und führten eine überhastete Agrarreform durch. Im Frühjahr 1941 wurden Zwangsablieferungen für die Bauern zu viel zu niedrigen Preisen eingeführt. All dies und weitere Maßnahmen führten zu einem erheblichen Rückgang der Wirtschaftsleistung. Die Deutschen übernahmen die meisten Elemente der sowjetischen Wirtschaftspolitik und erwiesen sich sogar als noch marktfeindlicher. Eben weil die Wirtschaft deshalb darniederlag und die Bauern, die den größten Teil des BSP erwirtschafteten, unter diesen Rahmenbedingungen demotiviert waren, musste die deutsche Besatzungsherrschaft beim Arbeitseinsatz zu Zwang greifen. Denn Anreize wie höhere Realeinkommen oder eine bessere Versorgung standen ihr wegen der desolaten Wirtschaftslage nicht zur Verfügung. Doch diese Probleme waren teilweise hausgemacht.

Trotz der vorgebrachten Kritik handelt es sich um eine insgesamt überaus gelungene Studie, der eine weite Verbreitung über den engen Kreis der baltischen Geschichte hinaus zu wünschen ist.  

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Tilman Plath: Zwischen Schonung und Menschenjagden. Die Arbeitseinsatzpolitik in den baltischen Generalbezirken des Reichskommissariats Ostland 1941–1944. Essen: Klartext, 2012. 502 S., Tab. ISBN: 978-3-8375-0796-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Plath_Zwischen_Schonung_und_Menschenjagden.html (Datum des Seitenbesuchs)

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