Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 342-344

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München: Beck, 2013. 688 S., 5 Ktn. = Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert. ISBN 978-3-406-64714-7.

Eine neue Gesamtdarstellung der Geschichte Russlands in deutscher Sprache war angesichts der Forschungsergebnisse der letzten eineinhalb Jahrzehnte überfällig, und Dietmar Neutatz hat gute Arbeit geleistet, allerdings möchte man sagen, dass ihm nicht der ganz große Wurf gelungen ist. Dies liegt hauptsächlich an einem gewissen Platzmangel aufgrund der Konzeption der Schriftenreihe, in der das Werk erschienen ist, und an einzelnen schwachen Stellen im Text. Andererseits schreibt der Verfasser sehr lesbar, der Aufbau ist logisch sowie gut durchdacht und die vorgenommene Erweiterung um kulturgeschichtliche Fragestellungen erscheint überaus gelungen.

Der Autor unterteilt seine Arbeit in sechs etwa gleich lange Teile, in denen jeweils ein Jahr für eine ausführlichere Querschnittsdarstellung ausgewählt wird. Für die Querschnitte wählt der Autor oft die Selbstrepräsentationen des Landes auf den Weltausstellungen als Anknüpfungspunkte. Neutatz beschränkt sich nicht auf Russland allein, sondern geht ebenso auf die nichtrussischen Teile des Imperiums – sei es das Zarenreich oder die Sowjetunion – ein. Allerdings behandelt er keine selbständig gewordenen Gebiete. So fehlen praktisch jegliche Hinweise auf die Entwicklung Polens, Finnlands, Bessarabiens und der baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit, obwohl ein Teil der Territorien mit über 20 Millionen Einwohnern 1939/40 erneut annektiert wurde und bis 1991 im Staatsverband der UdSSR verblieb. Auch fehlen Vergleiche mit anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion; der Autor geht nur auf die Russische Föderation ein, obschon ein Blick auf die Ähnlichkeiten und Divergenzen der weiteren Entwicklungswege durchaus erhellend wäre.

An den Hauptteil schließt sich ein umfangreicher Anhang mit Anmerkungen, dem Verzeichnis zitierter Quellen und Literatur, einem Personenregister und Karten an. Weiterhin liefert der Autor Hinweise zur Aussprache und zu den Datumsangaben. Ein Sachregister fehlt leider. Mit Sicherheit hat Neutatz mehr Literatur verarbeitet als angegeben, jedoch vermisst der Fachmann einige einschlägige Titel der englisch- und russischsprachigen Forschung. Dennoch schreibt Neutatz insgesamt auf dem neuesten Forschungsstand. Das Werk richtet sich eher an interessierte Laien und Studenten, doch auch ein Experte kann das Buch mit Gewinn lesen.

Die Schriftenreihe, in der bereits mehrere Bände erschienen sind, möchte Europas Geschichte als Einheit betrachten, allerdings nicht auf die nationalstaatliche Perspektive verzichten. Dies erscheint als sehr sinnvoll, jedoch fragt sich der Leser, warum Neutatz in seinem Text immer noch relativ wenige Vergleiche mit anderen europäischen Staaten anführt. In einer Zeit, in der „global“ und „transnational“ nahezu Modeworte in der Geschichtsschreibung geworden sind, könnte noch komparativer gearbeitet werden. Das eingeschränkte Wahlrecht zur Duma vor dem Ersten Weltkrieg kann beispielsweise leicht kritisiert werden, doch in Europa waren Zensuswahlen damals eher die Regel als die Ausnahme. Die Idee der Querschnitte, in diesem Fall um 1900 herum sowie in den Jahren 1926, 1942, 1966 und 1995, wird gelungen umgesetzt und ermöglicht ein Sich-Vertiefen in die jeweilige Situation Russlands bzw. der Sowjetunion. Zu kritisieren wäre die Beschränkung des Umfangs, dessen Vorgaben zwar vom Verfasser schon überschritten wurden, aber können die militärischen Vorgänge des Ersten Weltkriegs wirklich auf weniger als einer Seite komprimiert zusammengefasst werden (S. 140), ohne oberflächlich zu werden? Zahlreiche andere Themen leiden ebenfalls unter Platzmangel. So fällt beispielsweise die postsozialistische Transformation viel zu knapp aus, und die Hungersnot von 1932 bis 1934 wird auf weniger als zwei Seiten behandelt (S. 234–235). In diesem Fall vergisst der Autor, dass Stalin zwar zweifelsohne der Hauptschuldige war, aber das Wetter und überhöhte Ernteprognosen ebenfalls eine Rolle spielten. Auch erwähnt er nicht die vom Zentrum schließlich veranlassten Hilfslieferungen. Neutatz oder der Herausgeber der Reihe, Ulrich Herbert, hätte manchen Themen einfach mehr Platz einräumen müssen.

Der erste Teil widmet sich der Entwicklung vor 1917 und Neutatz setzt berechtigterweise schon vor der Jahrhundertwende, im Jahr 1890, ein und geht wie in den folgenden Teilen nicht nur auf Politik- und Sozialgeschichte ein, sondern auch auf Wirtschafts-, Geistes- und Kulturgeschichte sowie andere Aspekte. Wichtige Themen, die sich durch das ganze Buch hindurchziehen, sind die relative Rückständigkeit des Landes, die Modernisierung und die im Titel angeführten, an der Realität gescheiterten Utopien. Hier fragt sich der Leser, warum Neutatz nicht wie Douglass C. North oder Daron Acemoglu stärker nach der Bedeutung von effizienten Institutionen fragt oder angelehnt an James C. Scott die missglückten Pläne zur Beglückung der Menschheit genauer untersucht und gründlicher erläutert, warum sie scheitern mussten. Die genannten Autoren und zahlreiche andere haben sich zwar kaum zu Russland geäußert, aber ihre Ansätze sind für den russischen bzw. sowjetischen Fall durchaus anwendbar. Mancherorts schreibt der Autor auch lange über mangelhafte Infrastruktur und rückständige Dörfer, ohne dass ein entscheidender Terminus – fehlende Marktintegration – fällt, der über ein hohes Erklärungspotential verfügen könnte. Diese Kritik soll allerdings nicht in Frage stellen, dass der Verfasser in diesem wie in den anderen Teilen gute Arbeit leistet und den Leser gelungen in die dargestellten Epochen einführt.

Im zweiten Teil behandelt Neutatz gekonnt die Periode von 1917 bis 1928, von der Katastrophe des Bürgerkriegs bis zum Ende der Kompromisse der Neuen Ökonomischen Politik. Im Bereich der Außenpolitik vermisst man einen Hinweis darauf, dass die Sowjetregierung bis 1924 kommunistische Aufstandsversuche in anderen Staaten unterstützt und im Einzelfall sogar initiiert hat. Der dritte Teil ist dem Stalinismus gewidmet und bietet über weite Strecken eine ausgesprochen gelungene Synthese, besonders zur Vorkriegszeit. Ob die Sowjetunion aber 1937 wirklich schon ein Industrieland war, wie Neutatz schreibt (S. 228), könnte angezweifelt werden. Schließlich stellt der Verfasser selbst ausführlich dar, welche außerordentlichen Probleme im Verlauf der Fünfjahrespläne auftraten und dass 1937 mehr als zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land und lebten und hauptsächlich in der Landwirtschaft tätig waren. Dass Stalin seine Umgestaltung der UdSSR durch Ausplünderung der Bauern und eine Senkung des Lebensstandards finanzierte, beschreibt der Verfasser. Welche Bürde Stalin und seine Nachfolger der Bevölkerung durch überhöhte Rüstungsausgaben in Friedenszeiten auferlegten, darüber erfährt der Leser dagegen praktisch nichts. Dass sich die hohen Verluste der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg, nicht nur auf die Ausrüstung und die Menschenverachtung der Führung (S. 312) reduzieren lassen, sondern auch der inadäquaten Ausbildung der meisten Offiziere und Mannschaften geschuldet war, übergeht der Autor. Da wir über die Nachkriegszeit der UdSSR immer noch weniger wissen, als über die dreißiger Jahre, fällt auch die Darstellung von Neutatz hier etwas ab. Vom sowjetischen Atombombenprojekt ist überhaupt nicht die Rede, obwohl es möglicherweise ebenso wichtig war wie die später erwähnte sowjetische Weltraumfahrt.

Im dritten Teil behandelt der Verfasser den Zeitraum von 1953 bis 1982. Angesichts der Tatsache, dass die Erforschung dieser Epoche erst jetzt ernsthaft angefangen hat und viele Archivalien noch gesperrt sind, tut er dies ebenfalls überzeugend. Kritikwürdig ist allerdings, dass mitunter sowjetische Statistiken zu Säuglingssterblichkeit, Lebenserwartung und Konsum zitiert werden, ohne darauf hinzuweisen, dass die Angaben möglicherweise nicht der Realität entsprachen und unplausibel sind. Wie überzeugend ist ein Fleischverbrauch pro Kopf von 57 kg im Jahr 1975 (S. 447), angesichts der Klagen über Versorgungsengpässe und der Unmöglichkeit der exakten Erfassung privater Produktion? Besonders gut gelingt es dem Verfasser, den Alltag in der späten Sowjetzeit zu beschreiben.

Der letzte Teil widmet sich den Reformversuchen in den achtziger Jahren, dem Ende der Sowjetunion und der weiteren Entwicklung bis zur Jahrtausendwende. Dem Rezensenten erscheint es allerdings, dass Michail Gorbačev mitunter zu sehr als Macher und zu wenig als Getriebener dargestellt wird. Lässt sich das Auseinanderdriften der Sowjetrepubliken in erster Linie durch die Nationalitätenproblematik erklären oder stand dahinter nicht auch eine gewaltlose Demokratiebewegung von unten? Neutatz erwähnt nicht, dass zum Zusammenhalten des Imperiums auch vor Mord nicht zurückgeschreckt wurde, wie im Falle der getöteten litauischen Grenzbeamten 1991. Angesichts der umfangreichen Literatur geht der Verfasser zu kursorisch auf die postsozialistische Transformation ein. Der Querschnitt zum Jahr 1995 ist allerdings solide. Eine kluge und zusammenfassende Bilanz sowie ein Ausblick runden das Werk ab.

Um bei aller Kritik nicht missverstanden zu werden: Der Autor hat eine gute und empfehlenswerte Überblicksdarstellung vorgelegt. Angesichts der Materialfülle wird ein jeder Leser Themen identifizieren können, über die er gerne mehr erfahren hätte. Eben deshalb wäre ein größerer Umfang wünschenswert gewesen. An einigen Stellen treten Schwachstellen auf, doch auf weitere kleinere Fehler und Auslassungen hinzuweisen wäre unfair. Insgesamt handelt es sich um eine wirklich anregende Lektüre, die an manchen Stellen aber nachdenklich stimmt oder eben zum Widerspruch motiviert.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München: Beck, 2013. 688 S., 5 Ktn. = Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert. ISBN 978-3-406-64714-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Neutatz_Traeume_und_Alptraeume.html (Datum des Seitenbesuchs)

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