Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 498-500

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Julia Franziska Landau: „Wir bauen den großen Kuzbass!“ Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921–1941. Stuttgart: Steiner, 2012. 381 S., 2 Abb., 37 Tab. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 80. ISBN: 978-3-515-10159-2.

Diese gelungene Fallstudie reiht sich ein in eine Anzahl weiterer Arbeiten zu Großprojekten des Stalinismus, den Lebens- und Arbeitsbedingungen während der brachialen sowjetischen Industrialisierung sowie in regionale Untersuchungen. Die Autorin behandelt das Kuznecker Becken in Westsibirien, wo damals das größte Steinkohlevorkommen Russlands vermutet wurde, und konzentriert sich auf die Vorkriegszeit. Die Ergebnisse ihrer Studie decken sich weitgehend mit dem heutigen Forschungsstand, an mancher Stelle kann die Verfasserin wohl wegen der Quellenlage stärker ins Detail gehen. Sie liefert vor allem neue Einblicke in die Alltagsgeschichte sowjetischer Bergarbeiter.

Der Text liest sich flüssig bis auf eine mitunter störende Häufung von Abkürzungen. Am Ende eines jeden Kapitels findet sich eine nützliche Zusammenfassung. Zahlreiche Statistiken, ein Glossar und ein Personenverzeichnis mit weiteren Informationen ergänzen das Buch. Landau hat auf einer soliden Literaturgrundlage gearbeitet, nur einige russische Arbeiten zur Sozial- und Arbeitergeschichte des Stalinismus sind ihr offenbar entgangen. Die Quellenbasis ist breit, neben lokalen Archiven nutzt die Verfasserin die zentrale Überlieferung in Moskau sowie die Erinnerungen von Ausländern, die im Kuzbass tätig waren, und einzelne Interviews mit Zeitzeugen.

Nach einer wohlfundierten Einleitung liefert die Autorin einen Überblick über die Region und die Entwicklung des Kuzbass vor dem Einsetzen des ersten Fünfjahresplanes 1928/29. In dieser Phase waren ausländische Spezialisten und Bergarbeiter vor allem aus den USA, Deutschland und den Niederlanden bei der Erschließung der Kohlevorkommen, die dort besonders energiehaltig sind, relativ wichtig. Problematisch war die schlechte verkehrstechnische Anbindung, was die Transportkosten in die Höhe trieb. Schon in dieser ersten Entwicklungsphase zeichneten sich spätere Probleme ab wie Schwierigkeiten mit der Arbeitsmoral und der Fluktuation, unzureichende Wohnverhältnisse oder schlechte hygienische Bedingungen.

Im zweiten Kapitel schildert die Verfasserin die wirtschaftliche Entwicklung des Kuznecker Beckens während der Vorkriegs-Fünfjahrespläne. Von 1928 bis 1941 sollte sich die Kohleförderung verzehnfachen, ein wichtiges Ziel bestand in der Versorgung des europäischen Russland mit Kokskohle aus dem Kuzbass. Verschiedene Formen der Anwerbung von Arbeitskräften bestanden parallel, doch wegen der schlechten Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse wurde verstärkt zu zwangsweiser Rekrutierung bzw. zu Zwangsarbeit gegriffen. So bestand 1932 ein Fünftel der Belegschaften aus Vertretern des „Sonderkontingents“. Die Einstellung von Arbeitskräften stand in einem Zusammenhang mit den Folgen der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft sowie der daraus resultierenden Hungersnot. Besonders der Fachkräftemangel machte sich spürbar bemerkbar. Doch es fehlte auch an Grubenpferden, so dass diese von Menschen ersetzt werden mussten. Die Angaben zur Fluktuation sind dem Rezensenten allerdings nicht verständlich. So schreibt die Verfasserin, dass 1932 im Monatsmittel 32.308 Arbeiter beschäftigt gewesen seien, es habe 60.072 Neuzugänge und 61.188 Abgänge in diesem Jahr gegeben, demnach betrage die Fluktuation 31,2% (S. 93). Überwiegend stammten die Betriebsangehörigen vom Dorf und meist aus Sibirien.

Im Folgekapitel geht es um die hierarchische Ordnung im Kuzbass. Die Ausländer, die gezielt angeworben wurden, um neue Maschinen oder anspruchsvolle Spezialtätigkeiten auszuüben, besaßen eine privilegierte Position, während sich die unfreien Arbeiter wie deportierte „Kulaken“ ganz unten in der Hierarchie wiederfanden. Für manch einen ausländischen Spezialisten mochte die Tätigkeit im Kuzbass finanziell attraktiv sein, da sie teilweise auch in Valuta vergütet wurde. Die Zwangsarbeiter dagegen sahen sich einer extremen Ausbeutung ausgesetzt. Landau behandelt ebenfalls die Frauenarbeit, die mitunter von emanzipatorischer Propaganda begleitet wurde. In der Regel wurden diese zumeist jungen und schlecht ausgebildeten Frauen für unqualifizierte und gering vergütete Tätigkeiten eingesetzt.

Im vierten Kapitel kommt die Autorin zur konkreten Arbeit unter Tage. Sie beschreibt Arbeitszeiten und -wege, Kleidung, Werkzeug und den eigentlichen Arbeitsprozess. Dies geschieht alles sehr eindringlich; so detailliert wurde in der Stalinismusforschung noch nicht über den Bergbau geschrieben. Allerdings würden wir gerne mehr über die Löhne und die Einkommensentwicklung erfahren, so schwer eine Berechnung von Realeinkommen in dieser Zeit auch fällt. Verwendet wurden vor allem Stücklöhne, bei fehlender Normerfüllung konnte die gesamte Schicht gestrichen werden. Die Mechanisierung nahm zweifelsohne konstant zu, ob aber bereits 1937 schon 95,8 % der Gesamtförderung maschinell geleistet wurden (S. 189), erscheint angesichts des sonstigen Bildes, das die Autorin zeichnet, als zweifelhaft.

Im nächsten Kapitel behandelt die Autorin im Detail die Lebens- und Wohnverhältnisse der Arbeiter. Verständlicherweise bestand eine Hierarchie des Wohnens, aber ob je Einwohner einer Bergbausiedlung nun 1,7 oder 3,3 Quadratmeter an Wohnfläche zur Verfügung stand (S. 231, 237) und das eher in Baracken und Hütten als in Häusern, so bleibt der Befund jedenfalls erschütternd. Es bestanden zwar Überlegungen, sozialistische Mustersiedlungen anzulegen, doch diese blieben auf dem Papier. Die allgemeine Versorgungslage war schlecht, der Kuzbass wurde auch von der Hungersnot Anfang der dreißiger Jahre getroffen, was zu erhöhter Sterblichkeit führte.

Zum Schluss geht die Autorin noch auf den Terror im Alltag sowie die Gefahren der Tätigkeit im Bergbau ein. „Kulaken“ mochten verhungern, Grubenunfälle bedrohten das Leben und an ihnen konnten „Saboteure“ schuld sein, nach denen die Behörden suchten. Arbeiter vermochten zu helfen, die „Schuldigen“ unter den Vorgesetzten zu finden.  

Zu bemängeln wäre, dass die Autorin nicht häufig genug Vergleiche mit anderen, ähnlich angelegten Studien zur stalinistischen UdSSR zieht. Noch stärker vermisst der Leser jedoch die Gegenüberstellung mit nichtsowjetischen Beispielen. Landau liefert eine Unmenge von Zahlen wie die Gesamtfördermenge des Kuzbass. Doch wenn wir diese nicht mit anderen zeitgenössischen Kohlerevieren in Westeuropa oder den USA vergleichen können, sagen diese Daten wenig. Die Geschichtsschreibung zur Sowjetunion sollte über den Tellerrand hinausschauen. Dass die Lebensumstände von Bergleuten in der Sowjetunion ungleich schlechter waren als in Westeuropa, erscheint klar, aber auch in diesem Fall wären einige Vergleichsdaten angebracht. Vor allem gilt es durch einen solchen Vergleich auch die Frage zu klären, ob die halsbrecherische Industrialisierung der Sowjetunion mit ihren ausbeuterischen Methoden wirklich zu positiven wirtschaftlichen Ergebnissen geführt hat.

Insgesamt lässt sich trotzdem festhalten, dass es sich um eine gelungene und lesenswerte Arbeit handelt, der eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Was die gewaltsame stalinistische Industrialisierungspolitik für die Bergleute mit sich brachte, wird jedenfalls nachhaltig deutlich gemacht.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Julia Franziska Landau: „Wir bauen den großen Kuzbass!“ Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921–1941. Stuttgart: Steiner, 2012. 381 S., 2 Abb., 37 Tab. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 80. ISBN: 978-3-515-10159-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Landau_Wir_bauen_den_grossen_Kuzbass.html (Datum des Seitenbesuchs)

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