Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 682-684

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Jürgen Kilian: Wehrmacht und Besatzungsherrschaft im russischen Nordwesten 1941‒1944. Praxis und Alltag im Militärverwaltungsgebiet der Heeresgruppe Nord. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2012. 656 S., Tab., Graph., Ktn. = Krieg in der Geschichte, 75. ISBN: 978-3-506-77613-6.

In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe von fundierten Arbeiten zur deutschen Besatzung sowjetischer Territorien und des Baltikums während des Zweiten Weltkriegs erschienen. Bei der zu besprechenden Studie handelt es sich einerseits um eine große Forschungsleistung und andererseits um einen Anachronismus. Ist denn eine umfangreiche Untersuchung beispielsweise zur amerikanischen Besatzungszone in Deutschland vorstellbar, deren Autor offenbar kaum Deutsch beherrscht und deshalb keine deutschsprachigen Quellen und nur vier deutschsprachige Publikationen berücksichtigt? Genau das tut aber Jürgen Kilian bezüglich der deutschen Okkupation im russischen Nordwesten. Im Literaturverzeichnis konnte der Rezensent nur vier russischsprachige Titel und keine einzige russischsprachige Quelle entdecken, und wenn der Autor den Namen der Besatzungszeitung Sa Rodinu (sic!) mit „Für die Freiheit“ übersetzt (S. 354), dürfte er auch kaum des Russischen mächtig sein.

Der Verfasser marschiert praktisch mit der Wehrmacht in diese Besatzungszone ein, die sich östlich von Estland bis vor die Tore Leningrads erstreckte. Für eine Beschreibung des russischen Nordwestens einschließlich der Vorgeschichte nutzt er nur ganze neun Seiten, und der deutsche Abzug wird ebenso wenig behandelt wie das Nachspiel der Okkupation für die einheimische Bevölkerung, nämlich Säuberungen und Filtrations­maßnahmen durch die sowjetischen Sicherheitsorgane. Kilian schöpft aus einer Vielzahl von Archiven, um die deutsche Seite und besonders die Perspektive des Militärs darzustellen, doch er ignoriert sogar die Publikationen der Besatzungspresse. Der Partisanenkrieg wird – zwar sehr gründlich – nur aus deutschen Quellen dargestellt, obwohl auch die sowjetischen zugänglich sind. In der Administration war laut Kilian die landeseigene Verwaltung mit rund 20.000 Mitarbeitern etwa 40 mal so stark besetzt wie die deutsche Militärverwaltung, doch kein einziger russischer Bürgermeister wird auch nur namentlich erwähnt, geschweige denn die überlieferten Quellen ausgewertet. Insgesamt wissen wir schon relativ viel über die deutsche Okkupationspolitik im Osten, aber gerade eine Untersuchung einer einheimischen, russischen  Institution wie eben der landeseigenen Verwaltung wäre etwas Neues. Weiterhin kennt Kilian sich nur wenig in der Literatur zum Stalinismus aus. Daher sind seine landeskundlichen Kenntnisse in einigen Fragen nicht viel besser als die der damaligen Besatzer.

Doch genug der Kritik, denn die Arbeit ist trotzdem sehr empfehlenswert. Der Text ist gut lesbar geschrieben und weist eine sehr dichte, mitunter nahezu pedantische Belegstruktur auf. Als störend erscheinen manchmal nur die zahlreichen militärischen Abkürzungen, die sich der Leser nicht immer merken kann, sowie die Unsicherheiten bei Ortsnamen und der russischen Sprache (beispielsweise selskij’sovet anstelle von sel’skij sovet). Kilian dringt tiefer und gründlicher als viele andere Historiker des Ostkriegs in die deutschen Quellen ein und liefert durchaus manche Überraschungen. So fiel die Zahl der Besatzungsopfer unter den 1,3 Millionen Einwohnern mit rund 15.000 Zivilisten und Partisanen (S. 28) niedriger aus als erwartet. Laut dem Verfasser ist ein deutscher „Hungerplan“ für diese Region nicht nachweisbar, allerdings eine erhebliche Senkung des privaten Verbrauchs (S. 312). Auch habe sich die Alterszusammensetzung der Bevölkerung trotz Mobilisierung, Evakuierung und Kriegsverlusten weniger stark verändert als bisher vermutet und ein demographischer Kollaps sei nicht eingetreten (S. 96), wenn die Region auch 700.000 Einwohner verloren habe. Die intensive Arbeit mit den deutschen Quellen führt bei Kilian auch dazu, dass er die Mentalitäten und Motivationen der deutschen Entscheidungsträger vor Ort besser darstellen und nachvollziehbar machen kann.

Kilians Studie ist logisch aufgebaut, nach einer knappen Einleitung geht er auf den Forschungsstand, die Quellenlage sowie – recht gründlich – die Vorbereitungen des Unternehmens Barbarossa ein. Sehr überzeugend untersucht er den juristischen Rahmen für eine militärische Besatzung und dessen von deutscher Seite pervertierte Praxis, um anschließend viel zu knapp bei der Ausgangslage in Nordwestrussland zu verweilen. Gründlich wird wieder der institutionelle Rahmen des Okkupationsapparats dargestellt, ohne die landeseigene Verwaltung jedoch genug zu würdigen. Die landeseigenen und die baltischen Polizeikräfte untersucht der Autor etwas ausführlicher; sie stellten ja im Hinterland der Front mitunter bis zur Hälfte aller Sicherungskräfte. Allerdings hätte der Leser gern mehr über den russischen Ordnungsdienst erfahren, während die Forschungslage zu den baltischen Schutzmannschaften inzwischen relativ gut ist. Den eigentlichen Kern der Arbeit bilden jedoch drei Großkapitel zum Leben unter deutscher Herrschaft, zur wirtschaftlichen Ausbeutung und zur Bekämpfung von „Gegnern“ und Partisanen.

Der Alltag unter den Deutschen wird wie alle anderen Themen aus deutscher Sicht behandelt, wobei Kilian mit der Wahrnehmung des Landes und seiner Einwohner durch die Besatzer beginnt. Es gelingt ihm, viele Bereiche überzeugend dazustellen, von Wehrmachtsbordellen, Plünderungen und Geschlechtskrankheiten bis hin zu Mangelversorgung, lokalen Hungersnöten, der Religionspolitik und dem Bildungswesen. Die rechtliche Position der Einwohner wird ebenso untersucht wie die räumliche (teilweise erzwungene) Mobilität. Jedoch erscheint es etwas seltsam, die Umsiedlung der Inger­manländer und anderer ethnischer Minderheiten aus dem russischen Nordwesten, die sowohl in der finnischen als auch in der estnischen Historiographie ausführlich behandelt wurde, noch einmal neu und nur aus deutschen Dokumenten nachzuerzählen (S. 267–268). Störend ist an diesem Kapitel das Fehlen der Sicht der betroffenen Bevölkerung, die sich aus deutschen Akten eben nur spärlich rekonstruieren lässt.

Die ökonomische Ausbeutung darzustellen, gelingt Kilian ebenfalls weitgehend überzeugend. Schließlich sollten sich die deutschen Truppen in der Region, also etwa 0,9 Millionen Soldaten und Hilfskräfte, teilweise aus dem Land ernähren und teilweise vom Baltikum aus versorgt werden. Weiterhin galt es, einheimische Arbeitskräfte für die deutschen Kriegsanstrengungen vor Ort oder im Reich auszunützen. Auf die Frage, ob die Abgabenlast unter deutscher Herrschaft höher als unter Stalin war oder in etwa auf dem gleichen Niveau blieb, geht Kilian hingegen nicht ein. Angesichts der Kriegszerstörungen und des Arbeitskräftemangels hätten wohl auch konstante Abgaben katastrophale Folgen gehabt. Mit Sicherheit hat die deutsche Politik zu einer erheblichen Erhöhung der natürlichen Sterblichkeit geführt. Die einzigen von Kilian angeführten Zahlen aus deutschen Quellen weisen aber in einem Fall auf eine Stagnation der Mortalität und im anderen Fall sogar auf deren Halbierung hin (S. 311). Diese Angaben sind allerdings nach dem, was wir über das wesentlich besser versorgte Baltikum wissen, komplett unrealistisch und unglaubwürdig. Die natürliche Sterblichkeit dürfte tatsächlich eher um ein Drittel oder vielleicht sogar um die Hälfte gestiegen sein.

Ein Herzstück der Arbeit ist das Kapitel über die deutsche Vernichtungspolitik, der Juden, Roma, zahlreiche Kommunisten und auch Behinderte zum Opfer fielen, sowie die Darstellung des Partisanenkrieges, bei der leider die sowjetischen Quellen fehlen. Kenntnisreich schildert Kilian die verschiedenen Etappen der Morde, wobei in der Region nur eine relativ geringe Anzahl von Juden und von Angehörigen anderer Opfergruppen gelebt hatte. Ebenso überzeugend gelingt die Darstellung der Partisanenbekämpfung aus deutscher Sicht mit ihren verschiedenen Phasen und Taktiken einschließlich der Vergeltungsmaßnahmen, der Tötung unbeteiligter Zivilisten und der Zerstörung von Siedlungen. Eine Zusammenfassung rundet den Fließtext ab. Daran schließt sich ein Anhang mit  Abkürzungs-, Quellen- und Literaturverzeichnissen, verschiedenen Registern usw. an.

Was in der Darstellung komplett ausgeblendet wird, sind der deutsche Rückzug, die Befreiung durch die sowjetische Armee und die darauf folgenden Säuberungsmaßnahmen. Der Leser hätte sicherlich gern erfahren, was aus den Kollaborateuren sowie aus den einfachen Mitarbeitern der landeseigenen Verwaltung und des russischen Ordnungsdienstes wurde. Auch wüsste er gern, wie das normale Leben nach dem Ende der Besatzung weiterlief und welches ungefähre Ausmaß die Kriegszerstörungen am Ende hatten. Kilian bleibt Antworten schuldig. Vielleicht hätte er etwas weniger Zeit mit deutschen Quellen verbringen und stattdessen Russisch lernen sowie stärker auf sowjetische Quellen und die Sicht der Einheimischen eingehen sollen.

Zusammenfassend ausgedrückt, handelt es sich bei der vorliegenden Studie um eine einerseits sehr gelungene Arbeit, die andererseits unter dem erheblichen Mangel leidet, die Perspektive der besetzten Bevölkerung sowie die russischsprachige Überlieferung und Literatur nicht berücksichtigt zu haben. Trotzdem gelingt es Kilian, seine Forschungs­ergebnisse weitgehend überzeugend darzulegen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Jürgen Kilian: Wehrmacht und Besatzungsherrschaft im russischen Nordwesten 1941‒1944. Praxis und Alltag im Militärverwaltungsgebiet der Heeresgruppe Nord. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2012. 656 S., Tab., Graph., Ktn. = Krieg in der Geschichte, 75. ISBN: 978-3-506-77613-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Kilian_Wehrmacht_und_Besatzungsherrschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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