Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 656-658

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Mara Kalnins: Latvia. A Short History. London: Hurst, 2015. 237 S., 9 Abb., 7 Ktn. ISBN: 978-1-84904-462-2.

Eine kurze Darstellung der Geschichte eines Landes soll den Leser knapp, aber fundiert einführen und den aktuellen Stand der Forschung repräsentieren. Das wird von Mara Kalnins, einer an der Universität Cambridge tätigen Literaturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf neuester englischer Literatur, nicht geleistet. Die Verfasserin ist lettischer Herkunft und eine ausgewiesene Kennerin von D. H. Lawrence und Joseph Conrad, aber eben nicht der Geschichte Lettlands. Sie kann sehr flüssig und lesbar schreiben, doch der Text leidet unter Tippfehlern, falschen Datierungen und Fehlinterpretationen. Er ist der Bevölkerung Lettlands gewidmet und möchte die Geschichte der lettischen Nation erzählen, aber über lange Strecken verfällt er in eine langweilige Ereignisgeschichte, wenn es beispielsweise um die mittelalterliche Eroberung des Landes geht.

Dem Buch ist eine mitunter fehlerhafte Chronologie vorangestellt. Es gibt ein Ortsnamensverzeichnis, in dem sogar Lettland auf Lettisch falsch geschrieben wird (Latvia anstelle von Latvija), Endnoten, die weitere Erläuterungen und Belege für Zitate liefern, aber nicht ausreichend auf die genutzte Literatur verweisen, eine lückenhafte Auswahlbibliografie, beispielsweise ohne Hinweis auf Andrejs Plakans’ englischsprachiges Standarwerk, und ein Register. Das Beispiel der Ortsnamen möge belegen, wie schlampig die Verfasserin arbeitet. Sie kündigt die Verwendung der historischen, offiziell verwendeten Ortsbezeichnungen an. Dies wären dann vom Mittelalter bis ins späte 19. Jahrhundert zumeist die deutschen. Stattdessen werden, mitunter in einem Satz, lettische, deutsche und englische Namen gemischt. Laut Kalnins lag Dorpat im 17. Jahrhundert in Estland, tatsächlich befand sich die Stadt bis 1917 in der Provinz Livland. Dies sorgt beim Leser für Verwirrung, ebenso wie beispielsweise die Fehldatierung von Hitlers Macht­über­nahme auf 1934, falsche Jahreszahlen für die Umsiedlung der Deutschbalten oder für die erste Universitätsgründung in der Region. Aus den Schwertbrüdern werden die Schwertritter und aus König Stephan Bathory wird Stephen Bagory, die Pruzzen wurden im 17. Jahrhundert ausgerottet und nicht assimiliert usw. Die Zuverlässigkeit von Kal­nins Angaben liegt wahrscheinlich noch unter der von Wikipedia.

Zu den zahlreichen faktischen Fehlern kommt noch hinzu, dass Kalnins über weite Strecken einer veralteten nationalistischen Historiografie folgt. So wird ein viel zu großes Verbreitungsgebiet der baltischen Stämme für die Bronzezeit angenommen (S. 6); es gab ein „goldenes Zeitalter“ in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends, sie spinnt an der Legende von der „guten Schwedenzeit“, die sie als Periode einer „wohlgesonnenen Hege­monie“ bezeichnet (S. 79), und idealisiert die autoritäre Herrschaft von Kārlis Ulmanis im 20. Jahrhundert. Aus dem Herzogtum Kurland macht die Verfasserin gar einen Nationalstaat (S. 79). Die lettische Eigenstaatlichkeit ist bei ihr stets eine große Erfolgsgeschichte und das eigentliche Ziel der Geschichte des Landes, wobei reale Probleme wie die Behandlung der nationalen Minderheiten oder Wirtschaftskrisen minimiert werden.

Wie wenig sie mit den Werkzeugen des Historikers umgehen kann, zeigt sich in einer äußerst naiven Einstellung gegenüber Quellen. Die lettischen Dainas, also Volkslieder oder Gedichte, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert gesammelt wurden, seien die frucht­barste Quelle zur Rekonstruktion der heidnischen Weltsicht der frühen Letten (S. 31). Sicherlich eröffnen sie Einblicke in die baltische Mythologie, aber wenn ein Text mündlich tradiert wird, ist es sehr unwahrscheinlich, dass er nach 600–700 Jahren noch eine historische Rekonstruktion erlaubt. Einer mittelalterlichen Quelle folgend, schreibt Kalnins, der Meister des Deutschen Ordens habe 1351 zugegeben, dass er im Laufe eines Jahrzehnts im Baltikum 117.000 Mann durch kriegerische Konflikte verloren habe (S. 49). Zur selben Zeit dürften in der Region weniger als eine halbe Million Menschen, darunter einige Hundert Ordensbrüder, gelebt haben. Die Verfasserin erkennt die typische Übertreibung von mittelalterlichen Zahlenangaben nicht.

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert, wobei sich das erste den Ursprüngen widmet. Bei der Vorgeschichte begibt sich Kalnins durchaus auf dünnes Eis, ist sie doch nur archäologisch und durch Quellen aus dem Ausland dokumentiert. Das zweite Kapitel unter dem Titel Ein unterworfenes Volk behandelt die Eroberung und die erste Hälfte des lettischen Mittelalters, während das folgende den Zeitraum bis zur Einnahme der baltischen Provinzen durch das Russische Reich darstellt. Hierbei hält sich Kalnins aber nicht streng an chronologische Grenzen.

Das vierte Kapitel stellt den Zeitraum der russischen Herrschaft dar, die laut Verfasserin eine deutliche Verschlechterung zur vorangehenden schwedischen war. Sie geht auf die Institution der Leibeigenschaft und ihre Verschärfung ein, jedoch ohne die wirtschaftlichen Ursachen auch nur anzuführen. In dieser Periode unterschlägt sie auch beispielsweise die Februarrevolution von 1917 oder die Tatsache, dass Riga eine der am schnellsten wachsenden Städte des Zarenreichs vor dem Ersten Weltkrieg war. Im fünften Kapitel beschreibt sie dann die Geschichte der Republik Lettland als Erfolgsgeschichte und charakterisiert die Jahre von der Unabhängigkeit bis 1940 als Dekaden der Freiheit (S. 130), obwohl bereits 1934 ein autoritäres Regime eingerichtet wurde. Die Deindustrialisierung in den zwanziger Jahren wird einfach übergangen.

Im sechsten Kapitel schreibt Kalnins dann über die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Hierbei verwendet sie den Topos der Deportation von Letten, um sie durch Russen zu ersetzen (S. 152), der bisher nicht belegt werden konnte, oder behauptet, dass nach dem Krieg eine Repatriierung nach Lettland gleichbedeutend mit einem Todesurteil gewesen sei (S. 159), was schlicht Unsinn ist. Die überwiegende Mehrheit der Repatriierten wurde nach Durchlaufen eines unangenehmen Filtrationslagers nämlich entweder nach Hause geschickt oder für ein bis zwei Jahre an Arbeitsbataillone überwiesen. In der Darstellung der Sowjetrepublik Lettland im folgenden Kapitel sind die nationalistischen Positionen des Exils deutlich zu erkennen. Das Abschlusskapitel beschäftigt sich mit der Periode nach dem Wiedererringen der Staatlichkeit und ist sehr unkritisch. Von allen drei baltischen Staaten verlief die postsozialistische Transformation nämlich gerade in Lettland am problematischsten; einmal musste sogar der Staatsbankrott abgewendet werden. Die Minderheitenfrage wird auch weitgehend ausgeblendet.

Es könnten noch bedeutend mehr fragwürdige Stellen in diesem Buch angeführt werden. Die in Lettland historisch ansässigen Russen, Deutschbalten, Juden und andere Minoritäten werden nur ungenügend behandelt. Zahlreiche wichtige Themen blendet die Verfasserin aus, wiederholt alte Klischees und Stereotypen und fügt noch eigene Fehler hinzu. Sie hat sich offenbar nicht tief genug in ihr Thema eingearbeitet. Von der Lektüre dieses Werks ist eindeutig abzuraten. Wer sich auf Englisch über die Geschichte Lettlands informieren möchte, sollte zu Andrejs Plakans’ altem, aber soliden Standardwerk The Latvians. A Short History greifen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Mara Kalnins: Latvia. A Short History. London: Hurst, 2015. 237 S., 9 Abb., 7 Ktn. ISBN: 978-1-84904-462-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Kalnins_Latvia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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