Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 4, S. 630-632

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Sven Jüngerkes: Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941–1945. Eine Kom­munikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen. Konstanz: UVK, 2010. 575 S. = Historische Kulturwissenschaft, 15. ISBN: 978-3-86764-270-5.

Niemand würde wohl auf die Idee kommen, eine Studie zur deutschen Besatzungsverwaltung in Frankreich ohne Französischkenntnisse zu verfassen. Doch bezüglich eines osteuropäischen Landes scheint dies kein Problem zu sein. Während der Autor umfangreich und in mehreren Staaten die deutschsprachige Aktenüberlieferung erforscht hat und seine empirischen Befunde nahezu erschöpfend ausbreitet, ignoriert er praktisch die Ergebnisse der lettischen Historiographie mit ihrem zeitgeschichtlichen Flagschiff, den inzwischen 25 Bänden der lettischen Historikerkommission. Doch selbst die englischsprachige Forschung wird nur auszugsweise rezipiert. Jüngerkes marschiert praktisch mit der Wehrmacht in Lettland ein – der historische Überblick bis zum Zweiten Weltkrieg ist veraltet und voller inhaltlicher Fehler – und zieht sich mit der deutschen Kapitulation wieder zurück. Letten und andere Einheimische tauchen selten als Akteure auf und wenn, dann gespiegelt durch das Prisma der deutschsprachigen Überlieferung. Einzig überlebende Juden erhalten durch autobiographische Schriften mitunter eine eigene Stimme.

Jüngerkes Untersuchungsgegenstand ist die deutsche Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ostland in Lettland. Laut seinen Angaben fanden sich im ganzen Reichskommissariat im Jahr 1942 nur 2504 Beschäftigte in der Zivilverwaltung (S. 124) und davon in Lettland gerade einmal 237 Mitarbeiter (S. 129). Angesichts der Einwohnerzahlen von über 15 Millionen für das ganze Gebiet vor dem Krieg und 1,9 Millionen für Lettland erscheint es eigentlich als faszinierender Untersuchungsgegenstand, wie eine so kleine Zahl von Beamten dermaßen viele Menschen während eines Krieges administrieren konnte. Dies gelang nur in enger Zusammenarbeit mit einheimischen Apparaten, die einer deutschen Aufsichtsverwaltung unterstanden. So beschäftigte die Stadt Riga, die einzige mit einem deutschen Bürgermeister, 58 deutsche und zwischen 10.000 und 12.000 lettische Mitarbeiter (S. 261). Bedauerlicherweise erfahren wir in dieser Arbeit aber kaum etwas über die Zusammenarbeit der deutschen Bürokraten mit den Einheimischen, obwohl letztere zahlenmäßig überwogen und mit Sicherheit auch die meiste Arbeit geleistet haben, wenn auch die wichtigsten Entscheidungen von Deutschen getroffen wurden oder von deutschen Dienststellen bestätigt werden mussten.

Der Autor geht methodisch von den Ansätzen der Systemtheorie Niklas Luhmanns und der Prozesstheorie Karl Weicks aus, die er „für die Analyse historischer Phänomene“ nutzen möchte (S. 15), nachdem er sie erschöpfend beschrieben hat. Jüngerkes will nationalsozialistische Organisationen – die Besatzungsverwaltung in Lettland dient ihm als Fallbeispiel – aus der Perspektive der Kultur- und Kommunikationsgeschichte untersuchen. Gewisse Zweifel hat der Rezensent schon, ob die Luhmannsche Systemtheorie besonders kompatibel zur Kulturgeschichte ist. Bezüglich der versprochenen Kommunikationsgeschichte beschränkt sich diese oftmals auf eine Schilderung des Zustands der Post-, Telefon- und Fernschreiberverbindung.

Ich möchte mir kein Urteil darüber erlauben, in welchem Umfang Jüngerkes seinen theoretischen Anspruch tatsächlich erfüllt hat. Anhand des wirklich umfangreich genutzten Archivmaterials erwartet der Leser nämlich entweder neue Erkenntnisse zur deutschen Okkupation in Lettland oder eine neue Wege einschlagende Fallstudie zur deutschen Besatzungsverwaltung im Osten. Manche Feinheiten der Organisationssoziologie dürften ihn dagegen eher weniger interessieren. Hier liegt auch eine eindeutige Schwäche des Zugangs des Verfassers.

Jüngerkes stellt erst einmal die Institution und ihren Aufbau vor dabei vermisst der Leser schmerzlich irgendwelche Organisationsschemata oder andere hilfreiche Gra­phi­ken , und schildert dann konkurrierende Einrichtungen, die in Hitlers Reich ja zahlreich waren. Anschließend kommt er in seinem Hauptteil – den Fallstudien – zur Arbeitsweise der Zivilverwaltung. Er kann eine ältere Blickweise der geringen Effizienz und des unqualifizierten Personals, der „Ostnieten“, korrigieren und gibt mit Hilfe von knappen Biographien auch einen Einblick auf die Zusammensetzung der leitenden Mitarbeiter. Jüngerkes gelingt es sehr wohl, Kompetenzstreitereien nachzuzeichnen, seien es mit den Behörden Heinrich Himmlers oder mit dem Bürgermeister Rigas. Zu den ausführlich behandelten Themen zählen Rangfragen, Reformversuche und -überlegungen einschließlich einer möglichen Autonomie Lettlands, der Holocaust oder das Ende des Reichskommissariats.

Problematisch ist, dass Jüngerkes trotz des Detailreichtums wenig Neues zur deutschen Besatzung in Lettland zu sagen hat. Erstens liegt dies am methodischen Zugang. Das vorgefundene empirische Material wird umfangreich nacherzählt und anschließend – wenn überhaupt – der Analyse anhand des theoretischen Rahmens unterworfen. Dabei interessieren oftmals eher verwaltungstechnische Einzelheiten und Formfragen, wie sieben Seiten zur Dienstuniform belegen (S. 250256), als die größeren historischen Zusammenhänge. Rund ein Drittel des Fließtextes besteht aus solchen eher unwichtigen Details. Zweitens orientiert sich Jüngerkes in der lettischen Geschichte, wie schon angedeutet, eher schlecht, da er die entsprechende Historiographie nicht kennt. So kommen auch grobe Schnitzer vor, wie das Baltikum als landwirtschaftliches Zuschussgebiet zu bezeichnen, wo der Lebensmittelverbrauch unter deutscher Besatzung drastisch zu senken sei (S. 170). Auch wird der wichtige Einfluss des ersten sowjetischen Jahres nur im Vorübergehen angesprochen. Drittens übergeht er wirklich spannende Fragen, die noch nicht gründlich untersucht sind. Eines dieser Themen ist die Zusammenarbeit von Deutschen und Einheimischen, welche ja die überwiegende Mehrzahl des Verwaltungspersonals bildeten und eben keine bloßen Marionetten waren. Mitunter waren diese lettischen Beamten auch qualifizierter als der deutsche aufsichtführende Beamte. Weiterhin möchte der Leser auch mehr darüber erfahren, wie die Bevölkerung die deutsche Zivilverwaltung sah. Wie wurde außerdem die Zivilverwaltung in den Medien inszeniert? Schließlich bleibt auch die Frage unbeantwortet, welche der konkurrierenden deutschen Institutionen wann die dominante Rolle im Ostland innehatte. Viertens fehlen, bedingt durch den methodischen Zugang, die politischen und ideologischen Aspekte der deutschen Herrschaft im Osten. In der Darstellung Jüngerkes dominieren zu sehr die Dienstwege und die bürokratischen Vorgänge. Aber wenn auch die meisten deutschen Pläne und Ost-Fantasien aus pragmatischen Gründen auf die Zeit nach dem Endsieg verschoben werden mussten, sollten diese doch von den Verwaltungen und Dienststellen im Osten dann implementiert werden. In den jeweiligen Generalbezirken des Reichskommissariats wurde die Bevölkerung bekanntlich sehr wohl nach rassischen und ideologischen Gesichtspunkten unterschiedlich behandelt. Massenmord war ein untrennbarer Bestandteil der deutschen Okkupationspolitik und die Zivilverwaltung leistete ihren Anteil.

Zusammenfassend gesagt, bietet diese Dissertation kaum wirklich neue Einsichten in die deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland bzw. in Osteuropa, allerdings liefert sie zahlreiche neue Details. Möglicherweise freuen sich Anhänger der Systemtheorie, diese an einer nationalsozialistischen Institution erprobt zu sehen; für den simplen Historiker ist das Ergebnis dagegen weniger befriedigend und fordert ein ziemliches Durchhaltevermögen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Sven Jüngerkes: Deutsche Besatzungsverwaltung in Lettland 1941–1945. Eine Kom­munikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen. Konstanz: UVK, 2010. 575 S. = Historische Kulturwissenschaft, 15. ISBN: 978-3-86764-270-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Juengerkes_Deutsche_Besatzungsverwaltung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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