Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 158-160

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

J. Arch Getty: Practicing Stalinism. Bolsheviks, Boyars, and the Persistence of Tradition. New Haven, London: Yale University Press, 2013. XVIII, 359 S. ISBN: 978-0-300-16929-4.

In diesem faszinierenden, aber auch Widerspruch herausforderndem Werk geht J. Arch Getty der Frage nach, inwiefern die Herrschaftspraxis des Stalinismus als eine traditionale und patrimoniale Herrschaft im Sinne Max Webers interpretiert werden kann. Für seine Untersuchung zieht der Verfasser in erster Linie zahlreiche sowjetische Archivquellen aus den zwanziger und dreißiger Jahren heran sowie die einschlägige englisch- und russischsprachige Literatur. Neben Max Weber stellen die Arbeiten Pierre Bourdieus sicherlich eine weitere Inspirationsquelle für Getty dar. Er beschränkt sich auch nicht allein auf den Stalinismus, um bestimmte Kontinuitäten vom 16. Jahrhundert bis zur Putin-Ära zu beschreiben. Besonders neu erscheint die These von Patrimonalismus oder Neo-Patrimonalismus des Stalinismus nicht, doch der Verfasser ist der erste, der ihr eine gesamte Monographie widmet.

Den Kern von patrimonialer Herrschaft bilden ein willkürlich agierender Autokrat, personalisierte Machtstrukturen, ein Patronage- und Klientelwesen, informelle Praktiken sowie politische Seilschaften. Diese waren in der Sowjetunion unter Stalin und auch zu anderen Zeiten mit Sicherheit vorhanden und sie spielten eine wichtige Rolle bei politischen Entscheidungsprozessen. Das Verdienst von Gettys Werk liegt bestimmt darin, dies für den Stalinismus deutlich herauszuarbeiten. Allerdings wirkt die Bezugnahme auf die russische Geschichte mitunter etwas befremdlich, wenn der Verfasser führende Sowjetpolitiker beispielsweise als Bojaren oder Fürsten bezeichnet.

Das Kernproblem dieses Buches liegt in der Gegenüberstellung zu ‚modernen‘ Herrschaftsformen, wie sie in den westlichen, entwickelten Ländern existieren. Die patrimoniale Herrschaft sei frei nach Weber „vormodern“ und „archaisch“; die „moderne“ Herrschaft mit einer neutralen und austauschbaren Bürokratie bilde das eigentliche Ziel. Getty betont wiederholt, die „Tiefenspuren“ der russischen Geschichte seien dafür verantwortlich, allerdings nicht allein, dass das Zarenreich, die Sowjetunion und das Putin-Regime patrimonial beherrscht wurden bzw. werden. So wichtig Kultur, Tradition oder Geschichte auch sind, der Autor übersieht ein wichtiges Detail: Der „Westen“ hat seit der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts rund 150 Jahre benötigt, um einen Rechtsstaat, effiziente Institutionen und eine Demokratie aufzubauen; und die Aufklärung bildete keineswegs den Anfang dieser Entwicklung. Das letztere wurde erst mit einem allgemeinen Wahlrecht, einschließlich des Frauenwahlrechts, im 20. Jahrhundert erreicht. Außerdem gab es auch in hochentwickelten Staaten Rückfälle wie das Dritte Reich. Bei diesem Aufbauprozess spielten sowohl gut funktionierende Institutionen als auch die Bereitschaft der Eliten, ökonomische und politische Macht abzugeben, eine entscheidende Rolle – und nicht „Tiefenspuren“ der Geschichte. Auch hat sich der ‚weiter entwickelte‘ Westen nicht besonders bemüht, einen Rechtsstaat, effiziente Institutionen oder die Demokratie in Kolonien oder abhängigen Gebieten einzurichten. Wie sollte also das relativ rückständige Russland bis zum Ersten Weltkrieg diese Aufbauleistung bewältigen oder die von einer utopischen Ideologie und einer Gewaltpolitik geprägte Sowjetunion? Auch in der heutigen Welt gibt es mehr patrimoniale oder vormoderne Regime als Demokratien mit effizienten Institutionen. Mit anderen Worten, Demokratie und funktionierende Bürokratie sind heute und auch historisch die Ausnahme und patrimoniale Herrschaft ähnlich wie in der Sowjetunion und in Russland die Regel. Was Getty als eine Art Sonderweg der russischen Geschichte darstellt, ist eben keine Besonderheit. Die Ursache für die Entwicklung in Russland liegt wahrscheinlich weniger in irgendwelchen „Tiefenspuren“ als in der Schwäche von Institutionen. Über die Bedeutung von Institutionen liegt inzwischen eine umfangreiche Literatur vor, die der Verfasser jedoch nicht rezipiert hat.

Der Aufbau des Werks ist nicht stringent an einigen Leitfragen orientiert, sondern eher essayistisch. Die einzelnen Kapitel könnten auch isoliert gelesen werden und der Autor springt mitunter von einem Thema zum nächsten. Gelegentlich ist seine deskriptive und quellennahe Schreibweise für den Leser auch ermüdend. Anfangs geht Getty auf historische Kontinuitäten ein wie das Verfassen von Bittschreiben bzw. Eingaben, die Bedeutung von Auszeichnungen und Rängen, die kollektive Verantwortung oder die Rolle der Eliten. Hierbei übersieht er allerdings zwei Faktoren: Der Kollektivismus in Russland ist ein Topos, und heute sind Russen laut Erkenntnissen der Soziologie ebenso individualistisch wie Westeuropäer. Weiterhin bestand in der Sowjetzeit, auch unter Stalin, stets ein Spannungsverhältnis zwischen Patronage und Professionalisierung der Apparate.

Im zweiten Kapitel widmet sich Getty besonders Persönlichkeitskulten, die im Stalinkult ihren Höhepunkt erreichten. Er folgert, dass Russland stets so regiert wurde. Doch hier kann eingewandt werden, dass erstens auch andere Länder ihre Staatsoberhäupter verehrten und zweitens die personale Herrschaft ein Ausdruck relativ schwacher Institutionen war. In den beiden folgenden Kapiteln schreibt der Autor über die Personalpolitik und die Entscheidungsfindung der Parteiführung. Auch hier kann er das organisatorische Chaos und die informellen Wege gut belegen. Allerdings ist diese Erkenntnis nicht neu und jedem bekannt, der längere Zeit in den Archiven des Stalinismus gearbeitet hat. Anschließend geht der Verfasser auf regionale oder fachliche Seilschaften ein, zwischen denen es wiederholt zu Konflikten kam.

Ausführlich behandelt Getty, wie Stalin mit den regionalen „Clans“ umging, indem er beispielsweise Sonderbevollmächtigte seines Vertrauens schickte. Angeblich spielten die geplanten Wahlen für den Obersten Sowjet eine entscheidende Rolle für den Beginn des Großen Terrors. Getty vertritt die wenig überzeugende These, sie seien als geheime Wahlen mit mehreren Kandidaten beabsichtigt worden. Der Beschluss Stalins zum Massenterror sei durch die Angst der Provinzfürsten vor einer möglichen Opposition ausgelöst worden. Später wandte sich Stalin gegen die regionalen Seilschaften selbst. In Gettys Interpretation des Terrors ist Stalin der Getriebene, während die heute dominierende Richtung der Forschung ihm eine aktivere Rolle zuschreibt.

Der Verdienst der Monographie liegt sicherlich darin, den patrimonialen Charakter der Sowjetunion auf Basis von quellennaher Arbeit deutlich und mit vielen Beispielen zu belegen. Auch gelingt es dem Verfasser überzeugend, bestimmte Kontinuitäten der russischen Geschichte – wie eben die Patronageverhältnisse und die Nutzung informeller Praktiken – zu verdeutlichen. Allerdings sind die Sonderwegthese und der angebliche Anlass des Massenterrors in der vorgelegten Form nicht nachzuvollziehen. Im Hauptteil nutzt der Autor weiterhin ausgesprochen selten die in der Einleitung erwähnten theoretischen Ansätze.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: J. Arch Getty: Practicing Stalinism. Bolsheviks, Boyars, and the Persistence of Tradition. New Haven, London: Yale University Press, 2013. XVIII, 359 S. ISBN: 978-0-300-16929-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Getty_Practicing_Stalinism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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