Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 109-111

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Vojna vo vremja mira. Voenizirovannye konflikty posle Pervoj mirovoj vojny. 1917–1923. Sbornik statej [Krieg in Friedenszeiten. Militärische Konflikte in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, 1917–1923]. Red. R. Gervart / D. Chorn. Moskva: NLO, 2014. 397 S., 4 Ktn., 17 Abb., 2 Tab. = Historia Rossica / Studia Europaea. ISBN: 978-5-4448-0184-0.

Der vorliegende Sammelband ist eine Übersetzung aus dem Englischen ins Russische und er liegt auch in einer deutschen Fassung vor. Im Vergleich zur englischsprachigen Version wurde er um einen Beitrag von Nikolaus Katzer ergänzt. So kann sich der Leser entscheiden, welche Sprache er bevorzugt. Der Band ist das Ergebnis von Tagungen in Dublin und Moskau sowie der teilweise langjährigen Kooperation der Autoren miteinander. Dadurch gelang es ausgesprochen gut, die Beiträge innerhalb eines gemeinsamen Rahmens zu fokussieren. Die einzelnen Aufsätze sind allesamt von hohem Niveau und fassen den aktuellen Forschungsstand in nationalen oder regionalen Fallstudien zusammen. In dem Sinne haben die Herausgeber gute Arbeit geleistet.

Paramilitärische Gewalt und Konflikte nach dem Ersten Weltkrieg waren ein gesamteuropäisches Phänomen, und nach dem einen großen Krieg folgten noch die vielen kleinen, wie durch ein Zitat Winstons Churchills am Anfang illustriert wird. Doch abgesehen von den deutschen Freikorps und dem Fall Irlands wurden die Paramilitärs von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt. Durch einen vergleichenden und transnationalen Ansatz bietet der Band eine hervorragende Einführung in das Thema, jedoch basieren die einzelnen Aufsätze eher auf Literatur als auf umfangreichen, neuen Archivrecherchen.

Die Herausgeber Robert Gerwarth und John Horne bieten in ihrer Einleitung einen geeigneten Rahmen für den gesamten Band. Sie formulieren das Ziel, die Ambitionen, die Ursprünge, Ausprägungen und Auswirkungen paramilitärischer Gewalt in Europa im Zeitraum von 1917 bis 1923 zu untersuchen, und argumentieren überzeugend, warum es folgerichtig ist, die untersuchte Periode mit den Russischen Revolutionen zu beginnen und mit dem Ende des Bürgerkriegs in Irland und dem Ausklingen des Ruhrkampfes enden zu lassen. Doch eine Reihe von Beiträgen überspringt sinnvollerweise die gesetzte Zeitgrenze, denn die paramilitärische Gewalt lief weiter. Die Autoren nutzen wiederholt das Konzept der „shatter zones“ von Donald Bloxham und weisen die Brutalisierungsthese von George L. Mosse eher zurück. Die Konkurrenz verschiedener Ideologien bildet einen zentralen Faktor der Analyse des Bandes; besonders galt dies für die Überbleibsel von Imperien, die zumeist auch noch ethnische Konflikte und keine klar definierten Grenzen aufwiesen. Revolution, der Zusammenbruch von Imperien und ethnische Konflikte sind daher Schlagworte, die den Band durchziehen und die eingesetzte Gewalt nachvollziehbarer machen. Wichtig war in bestimmten Regionen auch der Verlust des Gewaltmonopols des Staates.

Der erste Teil der Aufsätze steht unter der Überschrift Revolution und Gegenrevolution. Dies macht mit Sicherheit die Bedeutung der so genannten Oktoberrevolution und der Reaktion auf sie deutlich. William G. Rosenberg untersucht die Gewalt in den Russischen Bürgerkriegen, wobei er nicht die Niederlage im Weltkrieg als eine Ursache betont, sondern vielmehr die unzureichende Versorgungslage und die große Knappheit wichtiger Güter, welche es erlaubte, dass paramilitärische Gruppen entstanden. Es verschwammen auch zunehmend die Grenzen zwischen regulären und irregulären Einheiten. Rosenberg stellt auch die wichtige Frage, ob die Gewaltanwendung der Bolševiki den gegenrevolutionären Kräften in Europa nicht eher als eine Art Muster und als Rechtfertigung für eigene Gewalt diente. Die beiden Herausgeber setzen sich im folgenden Beitrag damit auseinander, wie man sich die „bolschewistische Gefahr“ vorstellte – sowohl unter den Siegern als auch unter den Verlierern des Weltkriegs. Anschließend stellt Gerwarth den Kampf gegen die „rote Gefahr“ in Mitteleuropa dar. Es bestand sozusagen ein transnationales Netzwerk von Paramilitärs in Gegnerschaft zum „jüdischen Bolschewismus“. Pertti Haapala und Marko Tikka zeigen in ihrem ausführlichen Aufsatz zum Finnischen Bürgerkrieg, wie dieser sich zwar schnell brutalisierte, diese Tatsache aber nicht so sehr auf die Russischen Revolutionen zurückzuführen war, als auf Faktoren vor Ort. Da die Bevölkerung Finnlands während des Weltkriegs von der Wehrpflicht befreit war, spielte das Kriegserlebnis auch keine besondere Rolle. Emilio Gentile liefert eine detaillierte Beschreibung der Entstehung und Etablierung von faschistischen paramilitärischen Strukturen in Italien in den Jahren 1919–1923. Nikolaus Katzer rundet diesen Block mit einem Beitrag über den weißen Mythos des russischen Antibolschewismus in der Nachkriegszeit ab. Er behandelt die Führungselite der Weißen Armeen und ihre politischen Aktivitäten in der Emigration.

Der zweite Teil trägt die Überschrift Nationen, Grenzen und ethnische Gewalt. Er beginnt mit einem Aufsatz von Sergej Ekel’čuk über den Ukrainischen Bürgerkrieg, welcher das heutige Geschichtsbild in der Ukraine ein wenig in Frage stellt. Der Autor betont den lokalen und gar nicht so ideologischen Charakter der Akteure. Tomas Balkelis gibt einen Überblick über die Entwicklung in den baltischen Staaten, wo Paramilitärs an den Unabhängigkeitskriegen beteiligt waren und deren Organisationen nach Friedensschluss als vom Staat finanzierte Mobilisierungsreserven und „Schulen der Nation“ dienten. Der Aufsatz endet erst mit dem Zweiten Weltkrieg und so kann Balkelis auf die Rolle der Paramilitärs bei den Staatsstreichen im Baltikum eingehen sowie auf die Beteiligung von Mitgliedern dieser Organisationen an Vergeltungsmaßnahmen im Sommer 1941 während des deutschen Einmarsches und am Holocaust. Doch angesichts des verhältnismäßig geringen Ausmaßes politischer Gewalt in den baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit erscheint der Vergleich mit Italien oder der Weimarer Republik, den der Autor zieht (S. 242), als etwas überzogen. John Paul Newman untersucht das Beispiel des Balkans und kann überzeugend auf Kontinuitäten mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verweisen. Sowohl nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns als auch im Zweiten Weltkrieg lebten die paramilitärischen Traditionen wieder auf. Uğur Ümit Öngur beschreibt die Entstehung unterschiedlicher paramilitärischer Einheiten im zusammenbrechenden Osmanischen Reich. Er verweist auf ihren teilweise lang andauernden Einfluss auf die Einstellung führender türkischer Politiker. Am Beispiel von Polen und Irland belegt Julia Eichwald, dass die Erklärung einer Kontinuität der Gewalt in Weltkrieg und Nachkriegszeit zu kurz greift. Dies gelingt ihr durch die Betrachtung von untypischen Paramilitärs, nämlich von Frauen und Kindern. In der späteren Erinnerung wurden die Frauen dann wieder ausgeblendet. Anne Dolan geht ebenfalls auf den irischen Fall ein, indem sie die eskalierende Wirkung von Kampfhandlungen und die Kultur der Gewalt der in Irland eingesetzten britischen Kräfte untersucht. Diese hätten sich alle sehr ähnlich verhalten – ob es sich nun um reguläre oder irreguläre Verbände handelte. Dolan appelliert für ein erweitertes Verständnis paramilitärischen Verhaltens. John Horne setzt schließlich einen Kontrapunkt zu den vorangegangenen Beiträgen, indem er zeigt, wie es Frankreich gelang, das Ausufern paramilitärischer Gewalt zu vermeiden.

Nach der Lektüre und all den negativen Beispielen paramilitärischer Gewalt ging dem Rezensenten der Gedanke nicht aus dem Kopf, paramilitärische und staatstreue Verbände können in einer Demokratie auch drei wichtige Aufgaben erfüllen: Sie können helfen, im Krisenfall die innere Ordnung aufrechtzuerhalten oder die Folgen von Naturkatastrophen zu beseitigen, und sie dienen im Kriegsfall als zusätzliche Mobilisierungsreserve. Schließlich besaß auch die alte Bundesrepublik mit der Bereitschaftspolizei und dem Bundesgrenzschutz paramilitärische Formationen, die nicht nur an kleinen Waffen ausgebildet wurden.

Alles in allem handelt es sich um einen lesenswerten Sammelband, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Angesichts der heutigen Situation paramilitärischer Gewalt in der Ost-Ukraine wird dem Leser umso mehr die Aktualität dieses Forschungsthemas bewusst. Der transnationale und vergleichende Ansatz liefert manches Aha-Erlebnis. Paramilitärische Gewalt war eben nicht beschränkt auf den ‚rückständigen Osten‘ oder die instabile Weimarer Republik.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Vojna vo vremja mira. Voenizirovannye konflikty posle Pervoj mirovoj vojny. 1917–1923. Sbornik statej [Krieg in Friedenszeiten. Militärische Konflikte in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, 1917–1923]. Red. R. Gervart / D. Chorn. Moskva: NLO, 2014. 397 S., 4 Ktn., 17 Abb., 2 Tab. = Historia Rossica / Studia Europaea. ISBN: 978-5-4448-0184-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Gervart_Vojna_vo_vremja_mira.html (Datum des Seitenbesuchs)

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