Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 152-153

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Sheila Fitzpatrick: On Stalin’s Team. The Years of Living Dangerously in Soviet Politics. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2015. XI, 364 S., 30 Abb. ISBN: 978-0-691-14533-4.

Sheila Fitzpatrick hat bisher mit Sicherheit einen enormen Beitrag zur Sozialgeschichte des Stalinismus geleistet. Nun versucht sie sich an der politischen Geschichte der Mannschaft Josef Stalins. Damit ist sie nicht die erste, sondern beispielsweise Oleg Chlevnjuk, Arch J. Getty, Simon Sebag Montefiore oder Stephen G. Wheatcroft haben vergleichbare Untersuchungen durchgeführt. Kein Diktator kann alleine herrschen, und es ist offensichtlich, dass es einer Gruppe von gleichgesinnten Politikern bedarf, um Herrschaft auszuüben und politische Ziele umzusetzen. Auch im Falle Stalins sind also die Molotovs oder Mikojans wichtig, um das Regime besser zu verstehen. Während mitunter Analogien zu einem Hof gezogen werden, betont Fitzpatrick die Existenz einer Mannschaft um Stalin herum und bleibt auch weiterhin in sportlichen Metaphern.

Liefert diese Monografie angesichts der bereits vorhandenen Veröffentlichungen noch etwas Neues? Der Rezensent ist der Überzeugung, dass die Autorin unser Wissen tatsächlich erheblich erweitert und ihr Werk sehr empfehlenswert ist. Das Buch umfasst ein Glossar, eine etwas knappe Einleitung, zehn chronologisch aufgebaute Kapitel, eine Schlussfolgerung, umfangreiche Endnoten, kurze Biografien der Akteure und ein Register. Fitzpatrick schreibt sehr lesbar, und mancher Kollege sollte sich von ihr eine Scheibe abschneiden. Es treten sehr wenig Tippfehler auf; einige Fakten sind inkorrekt, so schreibt die Autorin, dass die Wende im deutsch-sowjetischen Krieg im Winter 1942–1943 nach zweieinhalb [sic!] Jahren Konflikt erfolgte (S. 4), und einige persönliche Angaben sind fragwürdig. Es erscheint als etwas zweifelhaft, dass Michail Kalinin seine estnische Frau tatsächlich in Riga kennenlernte (S. 29) oder dass Stalin neben seinen anderen Verpflichtungen wirklich 500 Seiten am Tag las (S. 106). Solche Kleinigkeiten ignorierend, kann nur gesagt werden, dass die Verfasserin überzeugend die Beziehungen der Machthaber untereinander beschreibt; menschliche Aspekte kommen dabei nicht zu kurz, und sie geht auf die einzelnen Persönlichkeiten ein, sie ordnet alles in den historischen Kontext ein und führt als Gegenstimme noch Inhalte der Berichte zur Stimmungslage der Bevölkerung an. Das ist insgesamt gelungen komponiert, doch eine Zielgruppe, die breite Leserschaft, wird leider überfordert. Ohne solide Grundkenntnisse der Geschichte des Stalinismus lässt sich diese Monographie nämlich nicht mit Gewinn lesen. Der Fließtext umfasst nur 278 Seiten; mit etwas mehr Erläuterungen wäre er auch für ‚normale‘ Leser viel zugänglicher. Die Arbeit basiert auf umfangreichen Recherchen in den einschlägigen Archiven, den Memoiren aus dem Umkreis von Stalins Mannschaft sowie einer gründlichen Bearbeitung der Forschungsliteratur. Mitunter kann die Verfasserin auch den Kenner durch das Anführen bisher unbekannter Fakten oder Entwicklungen überraschen.

Stalins Mannschaft formierte sich in den zwanziger Jahren, gewann am Ende des Jahrzehnts erheblich an Bedeutung und löste sich 1957 auf. Die Autorin gibt also einen Überblick über mehr als 30 Jahre der Geschichte der hohen Politik der UdSSR. Dabei möchte sie sich nicht so sehr auf politologische Modelle konzentrieren, sondern auf die Interaktionen der Personen untereinander. Die Mannschaft fürchtete und bewunderte Stalin, und er bildete den Dreh- und Angelpunkt der Politik. Doch obwohl der Diktator glaubte, seine Mannschaft könne ohne ihn nicht auskommen, agierte sie doch nach seinem Tod 1953 überaus erfolgreich in Richtung auf einen grundsätzlichen Kurswechsel hin. Während bezüglich der Vorkriegszeit Fitzpatrick viel Bekanntes darstellt, liegt eine der Stärken des Werks gerade in der Untersuchung der Nachkriegszeit und der Transformationsperiode nach 1953.

Die einzelnen Kapitel sind wie erwähnt chronologisch aufgebaut und mit passenden Überschriften wie Die Mannschaft bildet sich versehen. Zwischenmenschliche Beziehungen werden gründlich behandelt, und dem Leser wird zu jedem Zeitpunkt deutlich gemacht, wer gerade über Stalins Gunst verfügte und zu seinem inneren Kreis gehörte. Vjačeslav Molotov fungierte über lange Zeit als eine Art rechte Hand und potentieller Nachfolger Stalins, während Kalinin als formeller Staatschef über eine weitaus größere Popularität verfügte. Anders als ihre kosmopolitischen Vorgänger verfügten Stalins Spieler über ausgesprochen geringe Auslandserfahrungen und Fremdsprachenkenntnisse. Überzeugend stellt Fitzpatrick Netzwerke und Patronage dar und weist darauf hin, wie die Kinder der Mannschaft zur Intelligencija hin strebten und wie ihnen der bildungsmäßige Aufstieg zumeist auch gelang. Die Autorin eröffnet wirklich tiefe Einblicke in die Funktionsweise des stalinistischen Machtapparats und kann nachhaltig belegen, dass die Mitglieder der Mannschaft ebenfalls über eine gewisse Autonomie in ihrem eigenen Funktionsbereich verfügten.

Auch wenn Molotov später behaupten sollte, dass die Sowjetunion den Krieg nicht ohne den Massenterror 1937–1938 gewonnen hätte, stellte der „Große Terror“ offensichtlich einen außerordentlichen Schock für Stalins Mannschaft dar. Da anders als beispielsweise bei der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft nicht anonyme Bauern betroffen waren, sondern auch hochkarätige Parteimitarbeiter, halfen einzelne Mitglieder der Mannschaft den Betroffenen. Doch sie konnten selbst zum Opfer werden, ebenso wie ihre Angehörigen oder diejenigen von Stalins erweitertem Verwandtschaftskreis. Der Diktator konnte ohne Probleme die Seinen ebenso opfern wie seine Mitspieler. Um eine wichtigere Person zu verfolgen, nahm Stalin gerne die Taktik der „Dosierung“ vor, also die langsame und schrittweise Unterhöhlung ihrer Machtbasis, bis am Ende die Verhaftung stand. Allerdings geht Fitzpatrick praktisch nicht auf die große Mehrheit der Terroropfer ein – die kleinen Leute. Terror ist jedenfalls ein durchgehendes Motiv des Werks, insbesondere weil hochgestellte Persönlichkeiten wie Molotov oder Kalinin auch die Inhaftierung der eigenen Ehefrauen miterlebten.

Bezüglich des Kriegs kann die Autorin überzeugend belegen, wie die Mannschaft zur Höchstform auflief und sehr viel Eigeninitiative zum Beispiel bei der Formierung des staatlichen Verteidigungskomitees (GKO) bewies. Leider behandelt Fitzpatrick kaum den Hitler-Stalin-Pakt. Die stärksten Kapitel untersuchen aber zweifellos die Nachkriegszeit. Durch das Altern Stalins und seine Gesundheitsprobleme musste seine Mannschaft nämlich nahezu im Kollektiv wichtige Entscheidungen treffen und nahm somit die spätere kollektive Führung vorweg, die von Nikita Chruščev dann 1957 aufgelöst wurde. Unmittelbar nach dem Tod des Diktators war eine friedliche Transformation nur möglich, weil Stalins engste Mitarbeiter eben keine willenlosen Erfüllungsgehilfen waren, sondern teilweise relativ autonome Spieler einer Mannschaft. Allerdings waren sie natürlich auch Mittäter. Diese Mannschaft hatte längst begriffen, welche großen Fehler der Diktator begangen hatte, und sie erkannten unmittelbar die Notwendigkeit von Reformen wie die Abkehr vom Massenterror oder die Steigerung des Lebensstandards. Das erfolgreiche Weiterfunktionieren der Mannschaft stellte sicherlich eine Überraschung dar. Inwiefern aber wichtige Reformen noch zu Stalins Lebzeiten begonnen wurden, wird von Fitzpatrick nicht beantwortet.

Es handelt sich insgesamt um eine gelungene, gut lesbare und exzellent recherchierte Monographie, doch leider wird sie einen breiten Leserkreis nicht so einfach erreichen, weil dies ein stärkeres Eingehen auf den historischen Zusammenhang erfordert hätte.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Sheila Fitzpatrick: On Stalin’s Team. The Years of Living Dangerously in Soviet Politics. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2015. XI, 364 S., 30 Abb. ISBN: 978-0-691-14533-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Fitzpatrick_On_Stalins_Team.html (Datum des Seitenbesuchs)

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