Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 476-478

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Inken Dose: Nationale Minderheiten im Ostseeraum. Geschichte und Gegenwart, Identität und territoriale Anbindung. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2011. 490 S., 25 Graph., 20 Tab. = The Baltic Sea Region: Northern Dimensions – European Perspectives / Die Ostseeregion: Nördliche Dimensionen – Europäische Perspektiven, 14. ISBN: 978-3-8305-1879-2.

Die vorliegende Dissertation versucht, ein ambitioniertes Projekt umzusetzen, den Vergleich von nationalen Minderheiten in fünf Ostseeanrainerstaaten. Hierbei überschreitet die Autorin die Grenzen der Nordischen bzw. der Osteuropastudien, indem sie Dänemark, Estland, Finnland, Lettland und Schweden in ihrem Sample erfasst und unter verschiedenen Aspekten untersucht. Das Ergebnis liest sich stellenweise recht interessant und der Verfasserin sind manche wichtigen Beobachtungen gelungen, doch leider ist das Vorhaben insgesamt eher als gescheitert zu betrachten.

Eine Grundlage ihrer Arbeit ist die Auswertung der Fachliteratur, doch die Autorin beherrscht nur zwei von fünf Landessprachen, nämlich Dänisch und Schwedisch, sowie nur zwei von fünf Sprachen der jeweils betrachteten nationalen Minderheiten, Deutsch und Schwedisch. Im Literaturverzeichnis überwiegen englischsprachige Titel, an zweiter Stelle stehen deutschsprachige sowie, weit abgeschlagen, einzelne dänisch- und schwedischsprachige Aufsätze und Bücher. Damit hat die Verfasserin keinen Zugang auf estnisch-, finnisch-, lettisch- oder russischsprachige Literatur oder Quellen wie Regierungsberichte, Zeitungsartikel usw. Aber selbst wichtige Standardwerke auf Englisch hat sie nicht berücksichtigt. Die Ursache liegt natürlich nicht nur an fehlenden sprachlichen Kenntnissen. Wer die Minderheiten in fünf Nationalstaaten in ihrer Geschichte und Gegenwart erforschen möchte, braucht auch ein tiefergehendes landeskundliches Grundlagenwissen. Das Projekt war in der Anlage offenbar viel zu ambitioniert und die fehlenden Sprach- und landeskundlichen Kenntnisse schlagen sich im Fließtext dann in zahllosen Fehlern, Missverständnissen und Oberflächlichkeiten nieder. Dem Rezensenten sind sie besonders bezüglich Estlands und Lettlands aufgefallen, offensichtlich ist der nordische Teil der Arbeit solider recherchiert, wenn auch bezüglich der finnischen Fallstudie gewisse Zweifel aufkommen.

Eine weitere Grundlage der Dissertation war eine gründliche Umfrage unter den Vertretern der Minderheiten in ihrer jeweiligen Muttersprache, von der 143 Fragebögen ausgefüllt wieder zurückkamen und ausgewertet worden sind. Auf diese Umfrage bezieht sich die Autorin wiederholt, um Unterschiede zwischen den Ländern herauszuarbeiten; sie muss aber selbst zugeben, dass die Umfrage bei weitem nicht repräsentativ war und vor allem Personen mit höheren Bildungsabschlüssen übermäßig stark vertreten sind. Lassen sich auf Basis von meist weniger als 30 nichtrepräsentativen Fragebögen je Land tatsächlich weiterführende Schlüsse ziehen? Kann man aus diesen ‚Daten‘ wirklich die zahllosen Grafiken und Tabellen ableiten, die auf eine Stelle hinter dem Komma genau Prozentangaben bieten? Die Ergebnisse dieser Umfrage können doch höchstens einen illustrierenden Charakter haben, ebenso wie die ausgesprochen wenigen Experteninterviews, die Dose durchgeführt hat.

Auf der Negativseite finden wir also ein mitunter nicht sehr gelungenes und stark selektives Referieren der Literatur sowie von der Verfasserin erhobene Daten von eher geringem Gebrauchswert. Hinzu kommen Tippfehler, schwer entzifferbare Grafiken und zweifelhafte Transliterationen aus dem Russischen wie Jychvi anstelle von Jõhvi (S. 359). Das Hauptproblem ist allerdings, dass dieses Projekt für eine Dissertation einfach zu umfangreich ist, um es im Laufe einiger Jahre angemessen behandeln zu können. Doch es gibt auch eine positive Seite. Die Autorin hat ihre Arbeit klar strukturiert, sie schreibt eine gut verständliche Prosa und bereitet insgesamt die Materialfülle gelungen auf. Besonders zu loben ist der Vergleich von fünf so unterschiedlichen Staaten mit der kleinen deutschen Minderheit in Nordschleswig, den erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt als Minderheit anerkannten Finnischsprachigen in Schweden, der russischsprachigen Minderheit in Estland und Lettland und schließlich den Finnlandschweden in Finnland.

Nach einer knappen Einleitung widmet sich die Autorin erst einmal dem Minderheitenbegriff und seinen verschiedenen Definitionen sowie anschließend dem Verhältnis von Staat, Nation und Region. Anschließend geht sie auf die grundsätzliche Fragen der Identität ein. Das folgende Kapitel stellt einen historischen Überblick der untersuchten Länder seit dem Mittelalter dar, der stark von politischer Geschichte, aber auch Fehlern und Ungenauigkeiten geprägt ist. Hier wären weniger historische Ereignisse als vielmehr auch Einblicke in die Sozial- und Kulturgeschichte gefragt, um die Situation der Minderheiten in den untersuchten Ländern besser verstehen zu können. Im umfangreichsten Kapitel stellt die Autorin schließlich die einzelnen Minderheiten, wichtige Regelungen der jeweiligen Minderheitenpolitik sowie die Interessenvertretungen der Minoritäten vor. Auch hier gibt es zahlreiche Ungenauigkeiten. Schließlich fragt die Verfasserin nach der territorialen Anbindung der Minderheiten, der Bedeutung der Ostseeregion und der Europäischen Union. Im Anhang finden sich die Ergebnisse der Umfrage.

Inken Dose breitet umfangreiches Material für einen Vergleich aus, das macht die Arbeit interessant. Doch angesichts der zahlreichen Fehler und Ungenauigkeiten sowie der fehlenden Repräsentativität der Umfrage weiß der Leser nicht, wann er der Darstellung und den Folgerungen der Autorin trauen kann und wann nicht. Weiterhin besteht die Frage, ob die russischsprachige Minderheit in Lettland (34 % der Bevölkerung) wirklich mit der deutschen Minderheit in Dänemark mit ihrem Anteil von 0,1–0,2 % vergleichbar ist. Faszinierend ist das Herausarbeiten von Unterschieden innerhalb der Gruppe der nordischen Länder und innerhalb derjenigen der baltischen Staaten. Explizit verwirft die Autorin die These einer größeren Ähnlichkeit der Minderheitensituation innerhalb der nordischen oder der baltischen Region und verweist beispielsweise auf Gemeinsamkeiten des schwedischen und lettischen Falls (S. 327). Dies wäre ein sehr schönes Ergebnis einer Untersuchung, wenn der empirischen Grundlage weitgehend zu trauen wäre.

Abschließend gesagt ist diese Arbeit nicht für eine studentische Leserschaft zu empfehlen. Ein Fachmann mag an einigen Stellen Neues und Spannendes insbesondere bezüglich des Ländervergleichs finden, sich an anderer Stelle aber über die vielen Unzulänglichkeiten ärgern. Das Thema war zu umfangreich für eine Dissertation.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Inken Dose: Nationale Minderheiten im Ostseeraum. Geschichte und Gegenwart, Identität und territoriale Anbindung. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2011. 490 S., 25 Graph., 20 Tab. = The Baltic Sea Region: Northern Dimensions – European Perspectives / Die Ostseeregion: Nördliche Dimensionen – Europäische Perspektiven, 14. ISBN: 978-3-8305-1879-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Dose_ Nationale_Minderheiten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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