Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 673-675

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie. 1938–1945. Hrsg. von Christoph Buchheim / Marcel Boldorf. München: Oldenbourg, 2012. 270 S., Tab., Graph. = Schriften des Historischen Kollegs, 77. ISBN: 978-3-486-70950-6.

Der zu besprechende Sammelband versammelt elf Aufsätze zu verschiedenen Aspekten der Wirtschaftsgeschichte von Volkswirtschaften unter der Vorherrschaft des NS-Staates in den Jahren 1938–1945, handelte es sich nun um besetzte oder um neutrale Staaten. Die spannende Frage der Verbündeten des Deutschen Reichs wird allerdings nicht aufgeworfen. Hervorgegangen ist der Band aus einem Münchener Kolloquium des Jahres 2007, dessen treibende Kraft, Christoph Buchheim, jedoch zwei Jahre später bedauerlicherweise verstarb. Marcel Boldorf beendete das Projekt allein. Da Buchheim und seine Schüler die These einer eher marktkonformen als durch Zwang gesteuerten Wirtschaft des Dritten Reichs vertreten, ist es bedauerlich, dass ein Beitrag aus der Feder Buchheims fehlt.

Der Band gliedert sich in vier Teile unterschiedlichen Umfangs. Die Beiträge sind verständlich geschrieben, ohne in den Jargon der Wirtschaftswissenschaften zu fallen oder den Leser mit mathematischen Modellen zu überfordern. Bedauerlicherweise ist nicht in allen englischsprachigen Aufsätzen und den englischsprachigen Zusammenfassungen eine Sprachkorrektur durch einen Muttersprachler erfolgt, was mitunter zu Fehlern und schlechtem Stil führt. Die Themen spannen sich von der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte, der Versorgungslage, der Frage nach Entscheidungsspielräumen für Unternehmen oder dem institutionellen Rahmen bis hin zum Wirtschaftsrecht oder der Finanzgeschichte. Ein roter Faden fehlt weitgehend, die Beiträge nehmen kaum aufeinander Bezug und auch die Einleitung kann keinen Rahmen herstellen. Weiterhin sind offenbar nicht alle Autoren mit dem Forschungsstand und der Diskussion der deutsch- und englischsprachigen Literatur zum Thema vertraut.

Die Einleitung Marcel Boldorfs zeichnet die Entwicklung und den heutigen Stand der Forschung nach, wobei festzustellen ist, dass Boldorf über die Situation in Osteuropa weniger informiert ist. So ignoriert er in seiner Diskussion über Handlungsspielräume von Unternehmen unter deutscher Besatzung komplett die staatlichen oder soeben verstaatlichten Betriebe in den okkupierten Zonen der Sowjetunion und erwähnt an anderer Stelle nicht den viel diskutierten „Hungerplan“ für diese Region. Aus seiner Einleitung wird deutlich, was die Beiträge für die Fallbeispiele später bestätigen, nämlich wie heterogen die deutsche Wirtschaftspolitik im besetzten Europa war und wie groß die regionalen Unterschiede, auch bedingt durch die Rassenpolitik, waren. Die Deutschen konnten jedoch nicht nur Regulierungen und Zwang einsetzen, sondern sie mussten auch Anreize benutzen. Insgesamt gelang es mit unterschiedlichem Erfolg, besetzte Länder und Neutrale für die deutschen Kriegsanstrengen einzuspannen und mit verschiedenen Methoden ökonomisch auszubeuten oder wenigstens auszunützen.

Im ersten Teil, der die Lebensbedingungen unter deutscher Besatzung thematisiert, werden nur zwei Beispiele, die allerdings gegensätzlicher nicht sein könnten, untersucht. Steen Andersen macht deutlich, dass für den Sonderfall Dänemark die deutsche Herrschaft nur zu einem relativ geringen Rückgang der Reallöhne führte, die Bevölkerung besser versorgt wurde als die Deutschen und sogar ein Rückgang der Arbeitslosenzahl zu verzeichnen war, der die Situation vieler Haushalte verbesserte. Sergei Kudryashov schildert dagegen im schwächsten Beitrag des Bandes die Lebensverhältnisse in der besetzten Sowjetunion. Dabei liefert er zahlreiche unverknüpfte Fakten, arbeitet die enormen Unterschiede zwischen dem Baltikum, Ostpolen und der ‚alten‘ Sowjetunion nicht heraus und bietet am Ende eine überhöhte Schätzung für den von Deutschen als Folge der Okkupation zu verantwortenden Bevölkerungsverlust.

Im zweiten Teil wird die Ausnutzung der besetzten Gebiete für die deutsche Kriegswirtschaft behandelt. Jonas Scherner kann am Beispiel der Auslagerung von Wehrmachtsaufträgen ins besetzte Europa zeigen, dass rund ein Viertel von Waffen und Ausrüstung der deutschen Armee von dort stammte. Überzeugend zeichnet er die Mechanismen nach. Deutlich wird, dass für die Wehrmacht als Empfänger von Gütern die Ausbeutung der okkupierten Länder wichtiger war als die Versorgung der deutschen Bevölkerung. Kim Oosterlinck untersucht in seinem komparativen Aufsatz Schulden und Kriegsfinanzierung in Belgien, Frankreich und den Niederlanden.

Im dritten und umfangreichsten Teil geht es um eine Kernfrage des Sammelbandes: Wie funktionierte die wirtschaftliche Steuerung in besetzten Gebieten und wie agierten Unternehmen? Marcel Boldorf behandelt souverän die gelenkte Kriegswirtschaft in Frankreich und ihre Institutionen. Wie andernorts konnte Deutschland große Vorteile aus den ungleichen Handelsverhältnissen ziehen und überhöhte Besatzungskosten einfordern. Hervé Joly folgt mit einem Beitrag zu französischen Unternehmern, der den vorherigen Aufsatz Boldorfs ergänzt. Wirklich neu für den Rezensenten waren die interessanten Ausführungen von Jaromír Balcar und Jaroslav Kučera zu Wirtschaftssteuerung und unternehmerischen Handlungsspielräumen im Reichsprotektorat. Obwohl das Protektorat Böhmen und Mähren langfristig ins Reich integriert und germanisiert werden sollte, war der deutsche Anteil im wirtschaftlichen Management eher gering. Die tschechischen Unternehmen produzierten bis zuletzt fürs Reich, verfolgten dabei aber auch ihre eigenen Interessen und konnten sogar eine Modernisierung voranbringen. Andrzej Wrzyszcz untersucht die Intervention der deutschen Justizverwaltung in die Wirtschaft im Generalgouvernement an den Beispielen des Patentwesens und der Konfiszierung von Feindvermögen. Wie andernorts auch bestand eine deutsche Aufsichtsverwaltung für polnische Institutionen. Harald Wixforth schließlich geht der Rolle von Banken in besetzten oder abhängigen Gebieten nach und fragt, ob sie als Instrumente einer deutschen Hegemonie dienten. Sehr fundiert kann der Autor einen Primat der Politik nachweisen; die Banken konnten die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht beeinflussen und ihr Entscheidungsspielraum war eher gering. Sie konnten laut Wixforth nicht wirklich Einfluss auf die „Neuordnung“ von Ökonomie und Gesellschaft nehmen, wurden aber zu Instrumenten der deutschen Hegemoniepolitik bei gleichzeitiger Ausweitung ihres Geschäfts.

Im vierten Teil stehen neutrale Länder im Mittelpunkt, doch der Rezensent würde gerne wissen, warum verbündete Staaten nicht behandelt wurden? Harold James gibt einen fundierten Überblick auf die Situation Schwedens und der Schweiz und betont, dass die Bedeutung der Neutralen für die deutschen Kriegsanstrengungen mitunter überbetont wird. Jordi Catalan untersucht Francos Spanien und geht dabei manchmal zu sehr ins Detail.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Band empfehlenswert ist, aber doch über einige Schwachstellen verfügt. Er macht vor allem deutlich, wie viel wir bereits über die Wirtschaftsgeschichte West- und Mitteleuropas unter deutscher Vorherrschaft wissen und wie relativ wenig über Südost- und Osteuropa bekannt ist. Der Krieg im Osten, die Massenverbrechen und die Besatzungserfahrung standen im letzten Jahrzehnt im Mittelpunkt, aber wirtschaftsgeschichtliche Studien fehlen nahezu vollständig.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie. 1938–1945. Hrsg. von Christoph Buchheim / Marcel Boldorf. München: Oldenbourg, 2012. 270 S., Tab., Graph. = Schriften des Historischen Kollegs, 77. ISBN: 978-3-486-70950-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Buchheim_Europaeische_Volkswirtschaften.html (Datum des Seitenbesuchs)

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