Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 658-660

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Russland an der Ostsee – Russia on the Baltic. Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16. bis 20. Jahrhundert) – Imperial Strategies of Power and Cultural Patterns of Perception (16th – 20th Centuries). Hrsg. von Karsten Brüggemann und Bradley D. Woodworth. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. XIV, 423 S. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 22. ISBN: 978-3-412-20671-0.

Die Herausgabe eines zweisprachigen Sammelbandes, dessen Mehrheit der Beiträge nicht in der Muttersprache der Autoren veröffentlicht wird, stellt eine besondere inhaltliche, sprachliche und stilistische Herausforderung für Herausgeber dar. Insbesondere gilt dies dann, wenn die Aufsätze fünf Jahrhunderte einer Verflechtungsgeschichte des Baltikums mit Russland behandeln, die normalerweise eher einseitig unter den Vorzeichen von Dominanz, Eroberung und Gewalt untersucht wird. Auch herrschen in verschiedenen nationalen oder regionalen Traditionen der Historiographie eher stereotype Vorstellungen von diesen Beziehungen vor. In diesem Zusammenhang haben die beiden Herausgeber, Karsten Brüggemann und Bradley D. Woodworth, alle Klippen erfolgreich umschifft und ein insgesamt lesenswertes Ergebnis auf angemessenem inhaltlichen Niveau vorgelegt, wenn auch einige wenige Aufsätze durch eine etwas geringere Qualität auffallen. Als kleiner Nachteil erweist sich, dass bei einzelnen Beiträgen fünf Jahre zwischen der Abfassung und dem Erscheinen vergingen, weshalb sie in Einzelfällen etwas veraltet sein mögen. Auch erscheint der Titel als ein wenig sperrig.

Nach einer kenntnisreichen Einleitung der Herausgeber, die einen guten Einstieg in das Thema liefert, gliedern sich die Beiträge in vier Blöcke. Im ersten geht es um die Wahrnehmung von Land und Leuten sowie um die Herrschaftslegitimation von Imperien. Anti Selart geht einer These aus der Mitte des 16. Jahrhundert nach, Livland sei ein russisches Erbland gewesen. Sehr wohl fundiert zeichnet er die damalige Diskussion nach und kann belegen, dass diese Hypothese erst nach dem Beginn des Livländischen Krieges im Jahre 1558 in Moskau entwickelt wurde. Ein historisches Argument sollte also der Rechtfertigung territorialer Eroberung dienen.

Aleksandr I. Filjuškin untersucht die Ursachen des Livländischen Krieges aus der Perspektive der Zeitgenossen. Hierbei trennt der Autor deutlich zwischen einem russischen und einem europäischen Blickwinkel. Ob Russland damals also nicht zu Europa zählte, sei dahingestellt. Laut Filjuškin betonten europäische Mächte ökonomische Gründe und den Einfluss auf den Seehandel, während für die russische Seite politische und ideologische Ursachen ausschlaggebend waren. Die Vorstellung zeitgenössischer Schriften ist hochinteressant, ebenso, wie Russland zu einem „Anti-Europa“ stilisiert wurde. Allen Parteien war gemein, den Krieg mit Hilfe der Religion als eine Art Heiligen Krieg zu beschreiben.

Ralph Tuchtenhagen untersucht die russische Herrschaftslegitimation im Baltikum im 18. Jahrhundert, welches Bild man sich von den Beherrschten in den Ostseeprovinzen machte, welche Stereotypen bezüglich Russlands in Schweden galten und umgekehrt. All diese Fragestellungen sind sehr spannend, aber dem Verfasser gelingt es nicht, sie in einem knappen Aufsatz erschöpfend zu behandeln. Deshalb bleibt sein Beitrag leider eher oberflächlich. Immerhin kann er belegen, wie beide Seiten die Bewohner der Provinzen nur als Beherrschte ansahen und welches Interesse das Russische Reich an schwedischem Wissen und schwedischen Institutionen hatte.

Ein zentraler Beitrag für den gesamten Band stammt aus der Feder von Karsten Brüg­ge­mann, der auf einer breiten Quellenbasis wie Reiseberichten und anderen Beschreibungen die Rezeption der baltischen Provinzen im späten Zarenreich untersucht. Brüggemann würzt seinen Aufsatz mit interessanten Zitaten und Beispielen. Die Ostseeprovinzen galten als ein Stück Europa in Russland, doch diese deutschbaltisch dominierte Region sollte in Zukunft russisch werden. Tobias Privitelli geht schließlich der sowjetischen Rezeption der selbständigen baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit nach. Er kann zeigen, wie diese „verlorenen Gebiete“ als „Vorposten des Imperialismus“ gesehen wurden. In seiner unveröffentlichten Dissertation erarbeitet Privitelli die Frage der Sowjetisierung allerdings deutlich besser als in diesem Aufsatz.

Im zweiten Block wird der imperiale Faktor in den Ostseeprovinzen, aber auch in Finnland und Litauen thematisiert. Nikolai N. Petrukhintsev zeichnet die Ostsee-Strategie Peters I. nach und betont, dass für lange Zeit während des Nordischen Krieges Peter die gleichzeitige Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich für bedeutender hielt. Svetlana N. Kovalchuk untersucht die Verfolgung der Altgläubigen in Riga und Dorpat (Tartu) unter Generalgouverneur Fürst Suvorov, der diesen Posten von 1848–1861 innehatte. Sie kann nachweisen, wie wichtig die Ziele des Zentrums in diesem Prozess waren. Theodore R. Weeks erforscht die Situation der Litauer und die Russifizierung im späten Zarenreich. Es gab laut Weeks kein wirkliches Bemühen um eine ethnische Russifizierung, vielmehr wurde die antirussische und katholische Haltung der Region erst recht nach dem polnischen Aufstand von 1863 von St. Petersburg als problematisch angesehen. Litauen sollte zum untrennbaren Teil Russlands werden. Das Schreiben von Litauisch mit kyrillischen Lettern oder die Verwendung von Russisch im katholischen Gottesdienst, was vor allem auf Weißrussen abzielte, sollte dieses Ziel langfristig erreichen helfen. Den litauischen Nationalismus hingegen beachtete das Zentrum nicht. Letztlich scheiterte diese Politik.

Robert Schweitzers Essay führt etwas aus dem eigentlichen Themenbereich heraus. Bei ihm steht Finnland im Mittelpunkt, und er zieht eher Polen als die Ostseeprovinzen zum Vergleich heran. Schweitzer stellt die These einer quasikonstitutionellen Herrschaft ohne eine wirkliche „Regierungspartei“ in den westlichen Randgebieten des Russischen Reiches auf. Inhaltlich kann seine Argumentation leider nicht voll überzeugen. Natalia S. Andreeva untersucht die „baltische Frage“ und die Reformpolitik der Zentralregierung in den Ostseeprovinzen am Beginn des 20. Jahrhunderts. Letztlich scheiterten weitgehende Reform- und Unifizierungspläne, die einen deutschbaltischen durch einen russischen Einfluss ersetzen sollten. Der Widerstand der baltischen Ritterschaften spielte eine wichtige Rolle. Leider kennt die Verfasserin die entsprechende lettische und estnische Historiographie nicht, was ihrem Beitrag sehr genutzt hätte.

Im dritten Block geht es um literarische Bilder und Propaganda. Katja Wiebe behandelt den Blick der russischen Literatur des späten Zarenreichs auf den „Norden“, der laut den Zeitgenossen Finnland und Estland mit einschloss. Dies tut sie kenntnisreich anhand zahlreicher literarischer Beispiele. Estland und Südfinnland dienten den reicheren Hauptstädtern in Zeiten der Eisenbahn als Erholungsgebiet und Ausflugsziele, die irgendwie doch exotisch waren.

Jelena Nõmm und Timur Guzairov schreiben über das Bild der Republik Estlands in sowjetischen Medien der Zwischenkriegszeit, während Guzairov in einem weiteren Aufsatz den Eindruck von den Esten in der frühen sowjetischen Presse betrachtet. Beiden Beiträgen ist die Abwesenheit jeglicher Analyse gemein, Studien zur Medien- oder Propagandageschichte wurden ebenfalls nicht konsultiert. Das Ergebnis ist eine simple Nacherzählung von Presseartikeln, die keine Überraschungen bietet.

Im letzten Block wird der lokale Faktor im imperialen Zusammenhang thematisiert. Evgeniya L. Nazarova untersucht Letten im höheren russischen Staatsdienst und im Dienstadel des Reiches. Damit kann sie überzeugend den Mythos vom reinen Bauernvolk um die Jahrhundertwende widerlegen. Nazarova bezieht sich auch auf lettischsprachige Arbeiten und liefert einen der interessantesten Beiträge des Bandes. Der Aufstieg der Letten im Staatsdienst erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und oft außerhalb der späteren Grenzen ihres Heimatlandes. Diese gut ausgebildete professionelle Schicht half dann entscheidend mit bei der Etablierung einer Eigenstaatlichkeit.

Ülle Tarkiainen untersucht das estnische Siedlungsgebiet als eine Art Testregion für agrarische Innovationen im 19. Jahrhundert. Das spätere Estland war dank der deutschbaltischen Gutswirtschaften, enger Kontakte mit Deutschland, einer intensiven Vereinslandschaft sowie der Tätigkeit der Universität Dorpat (Tartu) agrarisch weiter entwickelt als das russische Binnenland. Zahlreiche Reformen wie die Abschaffung der Leibeigenschaft oder die Möglichkeit des Bauernlandkaufs wurden früher als in Russland eingeführt. Neue Technologien oder das Genossenschaftswesen erreichten ebenfalls früher das Baltikum. Was Tarkiainen vergisst, ist die Tatsache, dass durch die geografische Lage und die Verkehrswege für die Landwirtschaft der Ostseeprovinzen höhere Gewinnspannen als im Binnenland erreichbar waren, weshalb sich Innovation schneller bezahlt machte und der Anreiz für Neuerungen höher war.

Zum Abschluss analysiert Olga Kurilo den Blick der Deutschbalten auf Russland und das Baltikum um die Jahrhundertwende auf Basis einer breiten Auswertung von Memoirenliteratur. Sie entwirft ein differenziertes Bild und arbeitet bestimmte Themenkreise als besonders bedeutsam heraus wie die Frage der Russifizierung oder auch das Verhältnis zu den Machthabern. Die Mehrheitsbevölkerung der Esten und Letten taucht in den Erinnerungen allerdings nur am Rande auf.

Insgesamt ist dieser Band trotz einiger Schwächen gut gelungen und er weist auf zahlreiche neue Aspekte der baltisch-russischen Beziehungen hin. Positiv ist die Einbeziehung anderer westlicher Randgebiete wie Finnland und Polen. Dieses Sammelwerk hätte jedoch etwas früher erscheinen können, und manch ein Autor wurde durch seine fehlenden Sprachkenntnisse eingeschränkt. Trotzdem ist dem Band eine weite Verbreitung zu wünschen.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Russland an der Ostsee – Russia on the Baltic. Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16. bis 20. Jahrhundert) – Imperial Strategies of Power and Cultural Patterns of Perception (16th – 20th Centuries). Hrsg. von Karsten Brüggemann und Bradley D. Woodworth. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. XIV, 423 S. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 22. ISBN: 978-3-412-20671-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Brueggemann_Russland_an_der_Ostsee.html (Datum des Seitenbesuchs)

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