Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 303-305

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Scharf überwachte Kommunikation. Zensursysteme in Ost(mittel)europa (1960er – 1980er Jahre). Hrsg. von Ivo Bock. Berlin, Münster, Wien [usw.]: LIT, 2011. 480 S., 5 Tab. = Das andere Osteuropa. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur (1960er – 1980er Jahre). Beiträge zu einer vergleichenden Zeitgeschichte, 1. ISBN: 978-3-643-11181-4.

Dieser Sammelband ist Bestandteil einer auf vier Bände konzipierten Reihe, die aus einem internationalen Forschungsprojekt unter Federführung der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen hervorgegangen ist. Es erscheint allerdings als etwas eigenartig, dass ein Projekt, welches sich in erster Linie mit Dissens und kulturellen Alternativen im späten Sozialismus beschäftigt, ausgerechnet die Zensur in den Mittelpunkt seiner ersten Veröffentlichung stellt. Diese Feststellung soll jedoch nicht den Wert des vorliegenden und etwas untypischen Sammelbandes schmälern.

Der Band besteht eigentlich nur aus drei Aufsätzen, die zwischen 84 und 177 Seiten umfassen, einer äußerst knappen, siebenseitigen Einleitung sowie einer 16-seitigen Zusammenfassung. Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Register sowie ein Vorwort des Reihenherausgebers runden die Publikation ab. Der Herausgeber Ivo Bock hat seinen zwei Mitautoren eine relativ exakt aufgebaute Gliederung mitsamt der anzusprechenden Themenfelder und Fragestellungen vorgegeben und deshalb lassen sich die drei Hauptaufsätze problemlos parallel lesen und die Fallstudien vergleichen, ohne dass es zu dem Eindruck ständiger Wiederholungen käme. Anders als in gewöhnlichen Sammelbänden sind somit alle Beiträge sorgsam aufeinander abgestimmt, sie ergänzen sich und runden einander ab.

Im ersten Aufsatz vergleicht Ivo Bock die Zensur in der UdSSR mit derjenigen in der ČSSR. Im Falle der Sowjetunion stützt sich der Verfasser nur auf Literatur, während er die zweite Fallstudie, die ČSSR, dank umfangreicher Archivrecherchen mit zahlreichen Originaldokumenten und Zitaten weitaus besser unterfüttern kann. Das sowjetische Zensursystem stellte wohl das Vorbild für die Volksdemokratien dar, doch vor Ort entwickelten sich eigene Modelle, wie Bock überzeugend am Beispiel der Tschechoslowakei belegen kann. Im Laufe der Zeit schwächte sich die Zensur ab, die Zahl der Beanstandungen ging zurück und die Nachzensur nahm im Vergleich zur Vorzensur an Bedeutung zu. Gründlich stellt der Autor Instanzen, Institutionen und auch Mechanismen der Zensur dar. Er kann seinen Argumentationsgang durch zahlreiche Beispiele belegen. Er betont dabei stets die Rolle der Ideologie und unterschätzt mitunter nach Auffassung des Rezensenten die Bedeutung pragmatischer Lösungen. Dank umfangreicher Zitate aus Originaldokumenten in der hölzernen Sprache des Spätsozialismus wird ein wenig zu stark der Eindruck von der Allmacht des Zensors genährt. Was Bock im Falle der Sowjetunion definitiv unterschätzt, waren die Unterschiede zwischen den Sowjetrepubliken. Kleine Republiken wie die baltischen verfügten im Untersuchungszeitraum über eine liberalere Kultur- und Zensurpolitik als die Russische SFSR, so dass beispielsweise ein estnischer Leser ein Vierteljahrhundert vor einem russischen Leser Franz Kafka in der Muttersprache kennenlernen durfte.

Der wirkliche Schwachpunkt dieses Bandes, mit seiner gründlichen und insgesamt gelungenen Konzeption, liegt darin, dass er gewisse Fragestellungen und Themen auslässt. Der zeitliche Abstand zum Spätsozialismus ist gering genug, um (anonymisierte) Interviews mit den damaligen Akteuren, also Kulturpolitikern, Zensoren, Chefredakteuren oder Kulturschaffenden, zu ermöglichen. Wir müssen uns als Historiker nicht immer nur auf Fachliteratur, Archivquellen und veröffentlichte Memoiren beschränken, wenn wir etwas über die soziale Praxis der Zensur vor 30 oder 40 Jahren oder über andere zeitlich naheliegende Themen wissen wollen. Weiterhin erfahren wir in diesem Band fast nichts über die Reaktion des Publikums auf die Zensur. Wie wurde die Zensur rezipiert und wie erfolgreich war sie wirklich? Eine mögliche Hypothese wäre, dass die Zensur letztlich gescheitert sei, weil sich Informationen oder auch Kunst doch nur recht schwer unterdrücken lassen.

Außerdem thematisiert der Band nicht die großen Konkurrenten der sozialistischen Zensoren: die westlichen Medien und Verlage sowie den Selbstverlag (Samizdat). Diese führten die Bemühungen des Zensors mitunter geradezu ins Absurde, und staatliche Medien befanden sich immer wieder in einem Wettlauf mit ausländischen Radio- oder Fernsehsendern. Was ebenso nahezu völlig fehlt, ist das Themenfeld der Unterhaltung. Der größte Teil unseres Medien- und Kulturkonsums dient nun einmal der Unterhaltung, das war auch im Sozialismus nicht anders. Krimis, Liebesgeschichten oder ein wenig Erotik erreichen ein weitaus größeres Publikum als Philosophen, Ideologen oder auch Historiker. Betrachtet man den Sammelband, so wurde der sozialistische Mensch scheinbar nur sehr selten unterhalten, und somit fehlen weite Bereiche der Medien- und Kulturlandschaft in dieser Untersuchung.

Im zweiten Aufsatz erforscht Aleksander Pawlicki die Besonderheiten der Zensurpolitik in der Volksrepublik Polen. Hierbei handelt es sich um eine besonders interessante Fallstudie, denn Polen verfügte im Spätsozialismus über die liberalste Zensur und gewährte seinen Bürgern sogar Reisefreiheit. In diesem Zusammenhang ist es etwas misslich, dass Pawlicki praktisch nur mit der polnischen Forschungsliteratur bzw. mit polnischen Dokumenten arbeitet, ohne einen Vergleich mit anderen sozialistischen Staaten zu ziehen. Wenn er bezüglich Polens, wo im Jahr 1978 immerhin 40 % der Bücher und ein Viertel der Zeitschriften von der Vorzensur befreit waren (S. 220), wiederholt von „Gedankenkontrolle“ schreibt, fragt man sich, wie der Autor wohl die Situation andernorts einschätzt. Nach Auffassung des Rezensenten überschätzt er ein wenig die Rolle des Staates und der Zensoren, stellt die verschiedenen Institutionen aber gründlich dar. Ein weiterer kleiner Kritikpunkt bezüglich dieses Beitrags ist die Qualität der Übersetzung, sie hätte noch gründlicher redigiert werden müssen, um die Lesbarkeit zu erhöhen.

Ann-Kathrin Reichardt widmet sich im dritten Aufsatz der Zensur belletristischer Literatur in der DDR. Dabei geht sie wie die zwei anderen Autoren gründlich auf Institutionen und Instanzen ein. Wie in anderen sozialistischen Staaten wurde die Existenz der Zensur in der DDR nicht zugegeben. Es ging also um die „Begutachtung“ literarischer Texte und um die Erteilung von „Druckgenehmigungen“. Mitunter halfen dem Autor in diesem Zensurverfahren informelle Wege, ebenso wie die Staatssicherheit informelle Mitarbeiter auf Literaten ansetzte. Doch wenn wir die Begutachtung und Zensur literarischer Texte betrachten, so fällt eine gewisse Ähnlichkeit zum Redigieren und Editieren oder zur Arbeit eines kompetenten Lektors auf. Letztlich scheiterten in der spätsozialistischen DDR laut Reichardt nur relativ wenige eingereichte Texte an der Zensur und erhielten somit keine Druckgenehmigung – rund ein halbes Dutzend von jährlich 200 bis 250 Arbeiten. Demnach war die Zensur deutlich weniger streng als erwartet.

Den Band rundet eine Zusammenfassung aus der Feder Ivo Bocks ab. Er weist nochmals auf Ähnlichkeiten und auf Unterschiede in der Zensurpraxis hin und betont die Unterordnung der Zensur unter das jeweilige Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Während sich die Zensur im Laufe der Zeit abschwächte, habe die Bedeutung interner Zensurinstanzen zugenommen.

Insgesamt handelt es sich um eine sehr gelungene Darstellung des schwierigen Themas Zensur im Spätsozialismus am Beispiel von vier Staaten. Der Leser erhält tiefe Einblicke in die Realität der Zensur und die unterschiedlichsten Praktiken. Einige Unterthemen wurden leider ausgespart, und hier bietet sich auch in Zukunft ein breites Forschungsfeld an: die Perspektive der Zensoren und des Publikums, die Konkurrenz westlicher Medien oder das Thema der Unterhaltung in Medien, die einen ideologischen Erziehungsauftrag hatten.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Scharf überwachte Kommunikation. Zensursysteme in Ost(mittel)europa (1960er – 1980er Jahre). Hrsg. von Ivo Bock. Berlin, Münster, Wien [usw.]: LIT, 2011. 480 S., 5 Tab. = Das andere Osteuropa. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur (1960er – 1980er Jahre). Beiträge zu einer vergleichenden Zeitgeschichte, 1. ISBN: 978-3-643-11181-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Bock_Scharf_ueberwachte_Kommunikation.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Olaf Mertelsmann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.