Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 153-156

Verfasst von: Stephan Merl

 

Lukas Mücke: Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972. Stuttgart: Steiner, 2013. 565 S., Tab. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 81. ISBN: 978-3-515-10607-8.

Die Dissertation nimmt mit den Altersrentnern die Bevölkerungsgruppe in den Blick, deren soziale Absicherung in der Sowjetunion genauso wie in allen anderen sozialistischen Staaten im Vergleich mit Westeuropa am unzureichendsten geregelt war. Mücke setzt sich vor allem zwei Ziele (S. 14–19): Weil er in der „rentenpolitischen Reformtätigkeit“ nach Stalins Tod eine deutliche Abkehr von der zuvor betriebenen Politik sieht, will er die Hypothese prüfen, die neue Führung habe nunmehr ihr Regime legitimieren und stabilisieren wollen, indem sie den Umgang mit den Adressaten der Rentenreformen auf Elemente realer Wechselseitigkeit, eines Gebens und Nehmens, ausrichtete. Dieses angebliche Austauschverhältnis will er in seiner Bedeutung für die politischen Ziele des Regimes und für die Eigenwahrnehmung der älteren Menschen analysieren. Sein zweites Anliegen besteht darin, die Untersuchung in den internationalen Kontext einzuordnen und dabei die Frage zu beantworten, ob die Sowjetunion zwischen 1956 und 1972 als Wohlfahrtsstaat einzustufen ist.

Der Untersuchungszeitraum ist eigenwillig. Während das Ende mit 1972 überzeugend damit begründet wird, dass die Gesetzgebung zur Altersrentenversorgung mit ihren Nachbesserungen 1971 zum Abschluss kam (S. 19), drückt der Beginn mit 1956 statt mit 1953 eine problematische und die ganze Studie prägende Fixierung auf das Regierungshandeln und die Gesetzgebung im Obersten Sowjet aus. Das deckt sich nicht mit unserem Wissen um die Machtverteilung, wonach die entscheidenden Direktiven von der Partei ausgingen. Mücke weist selbst darauf hin, dass das Präsidium des ZK bereits im Juli 1953 eine Kommission zur Rentenreform einsetzte und sich 1954 mindestens mit zwei Entwürfen befasste (S. 98).

Mücke beginnt seine Studie mit einem Blick auf die demographischen Daten, mit denen er die Alterung der Bevölkerung und damit die Dringlichkeit von Altersrenten verdeutlichen möchte (S. 34–51). In dem sehr umfangreichen 2. Kapitel erörtert er ausführlich die Vorgeschichte der Reform, die getroffenen Regelungen und auch die Mängel, die sich bei der Implementierung zeigten. Zunächst betrachtet er das Gesetz über Altersrenten für Arbeiter und Angestellte von 1956 (S. 52–178), anschließend das über Altersrenten und Beihilfen für kolchozniki von 1964 (S. 179–252). Den vergeblichen Protest der Briefschreiber gegen die Nichteinbeziehung der kolchozniki in die staatliche Sozialversicherung, die Stalin mit der Verfassung von 1936 durchsetzte, erwähnt er allerdings nicht. Die einschlägige Untersuchung von Arch Getty dazu fehlt im Literaturverzeichnis (J. Arch Getty: State and Society under Stalin: Constitutions and Elections in the 1930s, in: Slavic Review 50 (1991), S. 18–35). In den Kapiteln 3 und 4 fragt der Autor nach Reichweite, Qualität und Grenzen der Alterssicherung (S. 253–315). Sein Versuch, die „Löcher im Netz“ der Alterssicherung zu bestimmen, bleibt allerdings angesichts des Fehlens belastbarer Daten vergleichsweise vage. Kapitel 5 untersucht, wie die Rentenpolitik die Sozialstruktur der Sowjetunion veränderte, indem erstmals eine Versorgungsklasse von Altersrentnern entstand (S. 316–356). Um die Bedeutung der Reform zu bewerten, prüft Mücke, ob sich das Konzept der Anspruchsgemeinschaft (Mark Edele) auf die Altersrentner übertragen lässt. Das 6. Kapitel blickt auf die Beziehung von Staat und Gesellschaft (S. 357–398). Mücke diskutiert, ob die Rente als Wohltat eines paternalistischen Staates oder als wechselseitige Verpflichtung von Staat und Bevölkerung angesehen wurde. Das 7. Kapitel widmet sich den Rentnerräten, die Mücke für Organe „gesellschaftlicher Selbsttätigkeit“ hält (S. 399457). Kapitel 8 fasst die Ergebnisse zusammen (S. 458-516).

Mückes Übertragung des von Mark Edele für sowjetische Kriegsveteranen entwickelten Konzepts der Anspruchsgemeinschaft auf die Altersrentner (S. 327 ff.) wirft Fragen auf. Die drei Kriterien (Kommunalität = Zusammenhalt der kollektiven Einheit; Konnektivität = die relationalen Verbindungen, die Menschen miteinander vernetzen; Zusammengehörigkeitsgefühl] sieht er im Resümee als erfüllt an (S. 466–467). Im Kapitel 5 klingt das noch vorsichtiger. Dort räumt er ein, dass die rechtlich fixierte Position der normalen Altersrentner nicht mit dem Ansehen der Kriegsveteranen zu vergleichen war. Die der Verrentung innewohnende Normalität lasse die Altersrentner in ihrer Gesamtheit kaum als Statusgruppe im Sinne Edeles erscheinen. Auch die Konnektivität sei nicht so ausgeprägt gewesen. Die Gründung von Rentnerräten zeige aber, dass Engagement auf lokaler Ebene möglich war. Die Frage nach dem Zusammengehörigkeitsgefühl lasse sich nicht seriös beantworten. Dass einige Briefschreiber beanspruchten, für die Gruppe zu sprechen, wertet er als Ausprägung eines Wir-Gefühls zumindest bei einem Teil der Rentner (S. 342). Die Rentner insgesamt als Anspruchsgemeinschaft zu sehen, überzeugt vor allem deshalb nicht, weil ihnen, im Unterschied zu den Kriegsveteranen, der Ansprechpartner fehlte, der auf ihre Forderungen einging. Das zeigte sich drastisch in der von Mücke nicht mehr behandelten Zeit nach 1972. Die Lage der Rentner verschlechterte sich erneut, über ihre misslichen Lebensverhältnisse klagten sie in vielen Briefen. Anders als in westlichen Demokratien fehlte den sowjetischen Altersrentnern aber jegliche Möglichkeit, politischen Druck auszuüben.

Mücke begründet überzeugend, warum er den in der Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung von George W. Breslauer verwendeten Begriff Sozialvertrag für unpassend hält. Sein Vorschlag, stattdessen von reziprozitätstheoretischen Überlegungen auszugehen, macht Sinn. Allerdings sollte man, anders als er es tut, klarer konstatieren, dass sich dabei der Blickwinkel beider Seiten unterschied. Das Regime verstand Sozialleistungen als paternalistische Wohltaten und erwartete als Gegenleistung eine Steigerung des individuellen Arbeitseinsatzes in der Produktion. Mücke bezeichnet dies als paternalistische Dimension der Reziprozität. Die Rentner leiteten dagegen aus ihrer zurückliegenden Arbeitsleistung eine Verpflichtung des Staates zu ihrer Absicherung im Alter ab und verwiesen in ihren Briefen auf ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt. Dies bezeichnet Mücke als qualifikatorische Dimension der Wechselseitigkeit; sie habe der paternalistischen Dimension diametral entgegengestanden (S. 476). Wenn er den Paternalismus als fundamental neues Phänomen in der Beziehung zwischen Regime und Bevölkerung nach Stalins Tod sieht, ignoriert er die entsprechenden Forschungen zur Situation vor 1953.

Mückes Überlegungen zur Wohlfahrtsstaatlichkeit der Sowjetunion (S. 485–516) irritieren. Das Referieren westlicher Konzepte, die sich auf Marktwirtschaften beziehen, ist nicht erhellend für die staatlich gelenkte Wirtschaft der Sowjetunion. Mücke ignoriert, dass unter Chruščev ein alternativer Weg zur Sicherung des Existenzminimums eingeschlagen wurde, indem Preise zur Grundsicherung subventioniert wurden. Elementare Bedürfnisse wurden aus dem staatlichen Konsumtionsfonds“, ein Begriff, den Mücke nicht erwähnt, finanziert. An keiner Stelle begründet er, warum er seine Aussagen zum Wohlfahrtsstaat ausschließlich auf die in der Sowjetunion besonders schlecht gestellten Altersrentner stützt. Mücke definiert Wohlfahrtsstaatlichkeit zudem problematisch, wenn er sie nicht nur an das Bemühen um Lösung des Problems der Bevölkerungsarmut knüpft, sondern auch an deren tatsächlichen Erfolg. Weil der Aktionsradius und die Qualität der staatlichen Renten nicht ausreichten, um den Sowjetbürgern einen flächendeckenden Schutz zu gewährleisten, war die Sowjetunion nach seiner Ansicht zwischen 1956 und 1972 kein Wohlfahrtsstaat. Es ließe sich trefflich darüber streiten, ob die heutige Bundesrepublik nach Mückes Kriterien ein Wohlfahrtsstaat ist. Die Entdeckung der Kostenexplosion sozialer Absicherung, die auch alle westeuropäischen Sozialsysteme erschütterte und das hehre Ziel von William H. Beveridge, Not zu vermeiden, in den Bereich der Utopie verwies, scheint ihm nicht vertraut zu sein. Immerhin gesteht er der Sowjetunion schließlich den Status eines „wohlfahrtsstaatlichen Schwellenlandes“ (S. 515) zu.

In seiner Argumentation stützt sich Mücke auf Briefe. Sie sind in der Tat eine sehr interessante Quelle. Ihre Verwendung wirft allerdings erhebliche methodische Probleme auf, vor allem wenn man sich wie hier auf die inhaltlichen Aussagen stützt. An keiner Stelle reflektiert er das Problem, dass die Briefe (genauso wie das Archivmaterial) in der Sprache des Regimes verfasst sind und deshalb der Übersetzung in unsere Sprache bedürfen. Anders als er behauptet (S. 473), steht lediglich außer Zweifel, dass Partei und Regierung Eingaben, Briefe und Beschwerden zur Kenntnis nahmen. Ob sie sich tatsächlich in ihrem Handeln von ihnen beeinflussen ließen, muss im Einzelfall nachgewiesen werden. Das tut Mücke nur für den Protest der kolchozniki gegen die Festlegung eines abweichenden und damit diskriminierenden Renteneintrittsalters (S. 218–242). Hier aber hatte sich das Regime mit seiner Begründung so stark in Widerspruch zu seinem paternalistischen Anspruch verstrickt, dass es die Schlechterstellung nach kurzer Zeit korrigieren musste. Bisherige Archivstudien belegen ansonsten eher die Nichtberücksichtigung der in Briefen erhobenen Forderungen (vgl. etwa Arch Getty), zumal massenhafte Zuschriften zu öffentlich präsentierten Reformvorhaben bereits als Legitimation des Handelns hingestellt wurden. Mückes Behauptung, die sowjetische Führung habe mit ihrer Rentenpolitik „auf eine Vielzahl von Impulsen aus der Bevölkerung (reagiert), die über die Schieflagen im System der sozialen Sicherung informierten und eine Behebung der Mängel forderten“ (S. 84), widerspricht auch dem bekannten Zeitablauf, wonach die Parteiführung bereits im Sommer 1953 die Initiative ergriff, bevor der Zustrom von Briefen 1954 und 1955 einsetzte.

Mücke begründet nicht, warum er für seine Studie zum sowjetischen Wohlfahrtsstaat gerade die Altersrenten ausgewählt hat. Das Thema ist wenig geeignet, um Erfolge aufzuzeigen. Mücke versucht das zu überspielen, indem er im Bereich der Altersrenten Höhepunkte der Partizipation der Bevölkerung am Regime festmachen will. Den Umgang mit der Bevölkerung in dieser Frage deutet er als eine neue Art der Beziehung. Die Regierung sei überhaupt erst auf der Grundlage von Briefen tätig geworden, und die Rentner hätten zur Vertretung ihrer Interessen sofort „Rentnerräte“ gebildet! Die von ihm zu den Rentnerräten zusammengetragenen Informationen reichen in keiner Weise aus, um die behauptete systemkritische Bedeutung zu stützen (S. 480–481, 399–457). Statt nachzuweisen, dass die Masse der überwiegend aus Parteimitgliedern zusammengesetzten Räte ihrer offiziellen Aufgabenbestimmung entsprechend der ZK-Verordnung vom April 1958 nicht nachkam (S. 427), beruht seine Wertung allein auf einer Kampagne vom Anfang der sechziger Jahre, die den Räten „Abgesondertheit“ vorwarf. Ähnliche Kritikkampagnen an der Tätigkeit von Organisationen waren keineswegs ungewöhnlich. Die offenbar ungestörte und erfolgreiche Tätigkeit der Rentnerräte nach 1962 übergeht Mücke, weil er in der Presse keine Berichte mehr zu ihnen gefunden hat (sic!, S. 454). Um an dem offiziellen Selbstbild des von „väterlicher Fürsorge geleiteten Regimes“ zu kratzen (so Mücke S. 484), bedurfte es der Rentnerräte keinesfalls. Die Mängel, darunter die völlig unzureichenden Wohnverhältnisse, waren den führenden Parteileuten nur zu bewusst.

Die Studie ist insgesamt sehr referierend angelegt. Mücke diskutiert Konzepte, die andere entwickelt haben. Er justiert sie nicht entsprechend, obwohl das Nichtgreifen von marktwirtschaftlichen Wohlfahrtsstaats-Konzepten oder die Probleme der Übertragbarkeit des Konzepts Anspruchsgemeinschaft eigentlich selbstredend sind. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, dass er über ein Regime schreibt, dessen Funktionsweise er mit den von ihm entlehnten westlichen Konzepten auch nicht verstehen kann. Ein höheres Abstraktionsniveau, der deutlichere Versuch, die besonderen Verhältnisse in der Sowjetunion zu erfassen, und ein breiterer zeitlicher Überblick hätten es Mücke erlaubt, Einordnungen und Bewertungen mit größerer Kompetenz vorzunehmen. Am interessantesten sind seine Erörterungen zur Reziprozität aus der Sicht der Bevölkerung, und dazu, dass einzelne Gruppen der Altersrentner ihre Absicherung mit anderen Bevölkerungsgruppen verglichen (Kapitel 5). Kürzungen hätten der Lesbarkeit gut getan.

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Lukas Mücke: Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972. Stuttgart: Steiner, 2013. 565 S., Tab. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 81. ISBN: 978-3-515-10607-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Merl_Muecke_Die_allgemeine_Altersrentenversorgung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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