Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Stephan Merl

 

Das flache Land und die Ursachen des Terrors

Das zu besprechende Buch ist bisher wohl der ambitionierteste und gelungenste Versuch, die Atmosphäre und die Rahmenbedingungen, unter denen sich der Große Terror vollzog und vollziehen konnte, einzufangen. Schlögel führt den Leser mittels einer vielfacettigen Ablauf-Chronologie durch das Moskau von 1937. Allein der Versuch aufzuzählen, wovon dieses Buch handelt, würde den Rahmen sprengen. Ich wähle deshalb einige Aspekte aus, die mir besonders wichtig erscheinen und blicke dabei auch von außen, vom flachen Land, auf Moskau.

Mir leuchtet ein, dass Schlögel den Spannungsbogen zwischen der Verabschiedung der Verfassung Ende 1936 und den Sowjetwahlen Ende 1937 wählt. So gelingt es ihm, eine Bresche zu schlagen und die innenpolitischen Dimensionen des Terrors in den Vordergrund zu stellen. Er kann überzeugend herausarbeiten, dass es sich bei vielem um Inszenierungen vor der und für die Bevölkerung handelte. Fast alles, was mir bei der Argumentation zum Terror wichtig erscheint, finde ich bei Schlögel. Ich kann ihm aber in keiner Weise folgen, wenn er immer wieder darauf besteht, dies sei „Verzweiflungshandeln“ eines „schwachen Notstandsregimes“ (u. a. S. 29) gewesen. Vielmehr sehe ich darin das Auftrumpfen eines selbstbewussten Regimes, das nicht nur ungefährdet seine Fehlbeurteilung der Situation von 1936 korrigiert, sondern zugleich seine Position durch die Etablierung einer die Zusammengehörigkeit des Volkes betonenden Integrationsideologie festigt.

Indem Schlögel den Terror als Reaktion auf eine akute innen- wie außenpolitische Gefährdung darstellt (u. a. S. 643), bricht er mit seinem Vorsatz, das Rätselhafte gerade durch den Verzicht auf eine übergreifende These festzuhalten (S. 30). Wenn man die Ansicht teilt, dass in dem Werben um die Geschlossenheit der Sowjetbürger 1936 und in der Inszenierung eines Diktators im Einklang mit der gesamten Bevölkerung etwas qualitativ Neues lag, dann muss geklärt werden, ob das primär die Reaktion auf eine konkret wahrgenommene Gefährdung im Ausgangszustand 1936 war oder, wie ich im folgenden begründen möchte, andere Ursachen hatte. Schlögel unterstellt konkrete Gefährdungen durch Migration und einen allgemeinen „Erschöpfungszustand“ der Bevölkerung Moskaus. Beides sind aber keinesfalls Spezifika des Jahres 1936. Nach der unkontrollierten Zuwanderung bis 1933 und den Erschütterungen der Lebensmittelversorgung durch die Zwangskollektivierung ist das Jahr 1936 vielmehr durch eine zeitweilige Stabilisierung gekennzeichnet. Aus der Perspektive der Zeitgenossen ist ohnehin schwer nachzuvollziehen, dass Schlögel gerade für Moskau die katastrophalen Lebensumstände betont, denn die mussten der Masse der Nicht-Moskauer, vor allem den Kolchosniki, im Vergleich mit ihrem eigenen Elend geradezu als paradiesisch erscheinen. Gegen die „Unkontrollierbarkeit“ einer „entwurzelten, außerordentlich heterogenen, sich in ständiger Bewegung befindlichen Bevölkerung“ (S. 84f.) spricht, dass sich das Regime schon 1935 die „leichte Entfesselbarkeit“ von Hass und Missgunst zu Nutze machte und egoistische Stachanowarbeiter gegen ihre Leitungen aufhetzte. Die Treffsicherheit, mit der Stalin „das Volk“ ansprach und ihm seine herrschaftsstabilisierende Interpretation der Dinge aufzuzwingen verstand, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt das Heft des Handelns aus der Hand zu verlieren, spricht gegen ein „Notstandsregime“.

Erstaunlich ist, in welchem Maße Schlögel die langfristig stabilisierenden Elemente ignoriert, die aus der politischen Kultur erwuchsen und auf die Stalin seit Ende der 1920er Jahre bei Aufbau und Festigung seiner Diktatur virtuos zurückgriff. Dabei belegt er in vielen Kapiteln, wie tragfähig diese Herrschaftsmechanismen waren. So nutzte Stalin die vom „Zarenmythos“ geprägte politische Kultur. Nach außen, ganz im Gegensatz zur tatsächlichen Regierungspraxis, spielte er gekonnt die Rolle des vom Tagesgeschehen abgehobenen „guten Zaren“, der im Rahmen eines paternalistisch geprägten Herrschaftsverständnisses die Dinge zum Wohle der Allgemeinheit lenkte. Das gestattete ihm, alle Schuld auf den „Apparat“ zu schieben. Die entscheidende Stärke des Regimes lag gerade dort, wo bis heute viele seine Schwäche verorten, nämlich in der vermeintlichen Unbotmäßigkeit und der „mangelnden Qualität“ des Verwaltungsapparats.

Weiter darf nicht ignoriert werden, dass das Regime Kraft und Stabilität aus der Funktionsfähigkeit und vorgeblichen Überlegenheit seiner Ökonomie bezog. Die Grundlagen dafür legte Stalin Anfang der 1930er Jahre in Reaktion auf die Katastrophe der „Revolution von oben“ durch die Etablierung der administrativen Kommandowirtschaft und der von mir als „Kolchossystem“ bezeichneten Regulierung des Agrarsektors. Diese bedienten bestens die spezifischen Bedürfnisse der Diktatur: Äußerlich erfüllten sie Stalins Produktionsbefehle und garantierten ein bescheidenes Wachstum sowie den Erhalt von Agrarerzeugnissen ohne Bezahlung. Der Terror stellte ihre Funktionsmechanismen, die Symbiose der Kommandos von oben mit weitgehender Toleranz gegenüber dem zu ihrer Ausführung erforderlichen regelwidrigen Handeln, nicht in Frage. Die Ausblendung der ökonomischen Wirklichkeit verzerrt den Blick in doppelter Weise. Sie ignoriert zum einen, dass die offizielle Systembeschreibung zu keinem Zeitpunkt den Funktionsmechanismus korrekt benannte. Zum anderen suggeriert sie, die Mängel seien durch die ergriffenen Maßnahmen beseitigt worden. Tatsächlich aber verstärkte der Terror lediglich das regelwidrige Verhalten, weil es zugleich die einzige Überlebenschance bot. Stalin konnte eben deshalb Führungskräfte als Sündenböcke erschießen lassen, weil dadurch die Funktionsfähigkeit des Regimes nicht in Frage gestellt wurde. Es standen hinreichend junge, aufstiegswillige Nachfolger zur Verfügung. Sie wussten, dass die offiziellen Regeln zur Erfüllung der Kommandos nicht geeignet waren, und orientierten sich sofort an den gleichen korrupten, aber wirtschaftskulturell tradierten Praktiken ihrer Vorgänger.

Schlögels Verweis auf das Spannungsfeld von Verfassung und Wahlen greift zeitlich zu kurz. Die Verfassung ist nur im Kontext der Ereignisse von 1935 zu verstehen. Die „drei guten Jahre“ 1934 bis 1936 hatten eine Trendwende zur allmählichen Konsolidierung des Konsums herbeigeführt. Das Schlimmste schien überstanden. Vom Beginn des sozialistischen Aufbaus erwartete Stalin ein stetiges Wirtschaftswachstum. Die im Herbst 1935 gestartete Stachanowbewegung sollte die Produktivkräfte revolutionieren und die Arbeitsproduktivität schnell steigern. Darauf basierte Stalins Konsumversprechen („Das Leben ist besser und fröhlicher geworden“). Die Vision vom „zivilisierten Konsum“ sollte die Leute mitreißen und es erlauben, auf die weitere Diskriminierung der längst entmachteten „Ehemaligen“ zu verzichten. Diese Politik fand in der Verfassung ihren Ausdruck. Wie schon 1929/1930 überschätzte Stalin, geradezu „vor Erfolgen von Schwindel befallen“, das tatsächlich Erreichte. Die hochgesteckten Erwartungen zerschlugen sich im Verlauf des Jahres 1936. Da die Stachanowbewegung die Arbeitsproduktivität nicht steigerte, fehlten die Mittel zur Finanzierung der Konsuminvestitionen. Zusätzlich verknappte 1936 eine Missernte die Brotversorgung. Dadurch drohte eine Vertrauenskrise. Politisches Handeln war erforderlich, um die Verantwortung für das Ausbleiben der versprochenen Steigerung des Konsums zu personalisieren und auf klar benennbare Sündenböcke zu schieben. Die Darstellung der Funktionäre und Wirtschaftsleiter als böswillige Saboteure, Volksfeinde und ausländische Agenten war Routinehandeln. Schlögel zeigt, dass diese Interpretation tiefer griff und die Leute alles, was schief ging, mit Sabotage erklärten (S. 132135).

Schlögel argumentiert (S. 30), dass nichts auf eine vorgängige Planung der Ereignisse von 1937 hindeute. In der Tat bestand der „große Terror“ aus vergleichsweise unabhängigen Kampagnen. Doch ist erklärungsbedürftig, warum sie fast gleichzeitig abliefen. Meines Erachtens muss hierzu der Blick auf Stalin selbst gerichtet werden. Als Antrieb hinter seinem Handeln steht kaum eine reale Gefährdung, aber möglicherweise die schockierende Erkenntnis, dass er die Lage 1936 zu optimistisch beurteilt hatte. Wenn überhaupt irgendwo eine Gefahr lauerte, dann nicht in Moskau, wie Schlögel suggeriert, sondern auf dem Lande bei einer geknechteten Kolchosbauernschaft, die unter miserabelsten Bedingungen lebte. Hier vor allem hatte das Regime 1936 die politische Lage falsch beurteilt: Es hatte die Gefahr der Missernte unterschätzt, die Macht der orthodoxen Kirche für gebrochen gehalten und nicht erwartet, dass die Rückkehr der „Kulaken“ aus der Verbannung in ihre Dörfer dort Unruhe auslösen würde. Schlögels Behauptung, zwischen dem Terror und den Wahlen habe eine Verbindung bestanden (S. 601f., 641f.), trifft zu. Die Anfang Juli 1937 angeordnete Beseitigung ehemaliger „Kulaken“ und Geistlicher diente insofern der Wahlvorbereitung, als sie potentielle Unruhestifter in einer Geheimaktion aus dem Dorf entfernte. In keinem Fall war aber die Überlebensfähigkeit des Regimes ernsthaft bedroht oder gar die politische Führung von Panik ergriffen. Viele der Opfer waren Angehörige sozialer Randgruppen (u.a. Landstreicher, Prostituierte) und passen nicht in Schlögels Feind-Schema.

Schlögel zeichnet nach, was die Bevölkerung im Jahre 1937 bewegte und wahrnahm: den Heldenkult um Flieger und Polarforscher, die Kreation einer Sowjetkultur durch die Vereinnahmung von Puschkin, die unablässige Darstellung der Zusammengehörigkeit aller Bürger, wobei der sowjetische Raum übernational definiert wurde. Einheit wurde gestiftet und zelebriert, beginnend mit dem Lied von der Heimat, der Verfassung und der gleichberechtigten Teilnahme an der Sowjetwahl. Jedes große Fest wurde als Vielvölkeraufmarsch inszeniert. Und selbst die grandiosen Verschwörungsszenarien der drei großen Schauprozesse wurden mit unionsweiter Dimension gestrickt. Daneben prägten den täglichen Überlebenskampf das rastlose Hetzen von Schlange zu Schlange, aber auch Neid und Hass, die sich in unzähligen Denunziationen niederschlugen, sowie das Sich-Laben an der ständigen Präsentation von „Schuldigen“ durch das Regime.

Diese sich gleichzeitig mit dem Terror vollziehende Betonung der Geschlossenheit der Bevölkerung und ihre scheinbare Einbeziehung in politische Entscheidungen – Schlögel spricht von „Tötungsplebisziten“ – ist bisher unzureichend beachtet worden. Wenn die Erklärung nicht in der Gefährdung des Regimes lag, muss es dafür eine andere, von Schlögel übersehene Begründung geben. Diese drängt sich in dem von ihm explizit abgelehnten Vergleich mit dem Nationalsozialismus (S. 31) geradezu auf. Er rückt die Schwäche der auf Spaltung gerichteten sowjetischen Klassenkampf-Konzeption gegenüber der rassischen Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus in den Blick. Das Regime hielt sich für stark genug, in diesem Punkt „nachzubessern“ und Hitlers Erfolgskonzept zu kopieren und den spezifischen Bedürfnissen des Vielvölkerstaats Sowjetunion anzupassen. Mit der Verfassung baute es die integrativen Elemente aus. Das war nach dem Scheitern der korenizacija-Politik wichtig. Die Inszenierung der Zusammengehörigkeit aller Sowjetbürger war, wie bei der Volksgemeinschaft der Nazis, kaum mehr als eine formale Zuordnung. Die Inklusion in ein großes Ganzes wurde vollzogen durch Teilnahme an den Volksfesten und Feiertagen. Sie erlaubte im Weiteren eine ‚Entpolitisierung‘ der Integration im Alltag. Schlögel illustriert das mit den Unterhaltungsfilmen, die die gewünschte Botschaft scheinbar ‚unpolitisch‘ vermittelten. Sie riefen genauso wie die Schauprozesse die Bevölkerung zur Wachsamkeit auf, präsentierten „Doppelzüngler“ und belegten, dass gerade die sympathischsten Personen die heimtückischsten Verräter und Volksfeinde sein konnten. In Bezug auf Nachhaltigkeit und Massenwirksamkeit der Vermittlung waren sie den Schauprozessen weit überlegen.

Ich teile also in vielen Punkten Schlögels Interpretation, ohne deshalb den Terror aus einer Gefährdung des Regimes abzuleiten. Schlögel setzt den Akzent zu Recht auf die innenpolitische Ebene, blendet aber durch die Konzentration auf Moskau zu sehr die wirkliche Situation der Nichtmoskauer aus, die ihm als „Immigranten“ nur eine zweifelhafte Bedrohungskulisse liefern. Überzeugend beschreibt Schlögel, dass Stalin seine Rolle als Diktator mit der Konstruktion von Einheit und Zusammengehörigkeit des Sowjetvolkes kräftigte. Ich habe das anregende Buch mit enormem Gewinn gelesen.

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Karl Schlögel Terror und Traum. Moskau 1937. München: Carl Hanser, 2008. ISBN: 978-3-446-23081-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Merl_MR_Schloegel_Terror_und_Traum.html (Datum des Seitenbesuchs)

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