Denis Sdvižkov Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg. Verlag Van­denhoeck & Ruprecht Göttingen 2006. 260 S. = Synthesen. Probleme europäischer Geschichte, 3.

Einen russischen Allgemeinhistoriker für eine vergleichende Geschichte der Gebildeten in Europa zu gewinnen, war eine glänzende Idee; denn durch seine Herkunft steht er außerhalb jener mittel- und westeuropäischen Länder, deren Gebildete er analysiert – und durch seine historische Teildisziplin außerhalb des russischen Kontexts. So gelingt es ihm, die untersuchten vier nationalen Ausformungen mit einer gewissen Empathie und doch nicht ohne Distanz, weder idealisierend, noch unkritisch darzustellen. Dabei geht es nicht um eine vergleichende Bildungsgeschichte – in der Hauptsache weder um Inhalte, noch um Institutionen, sondern um eine soziale Gruppe im ‚langen‘ 19. Jahrhundert, das durch den Obertitel als „Zeitalter der Intelligenz“ gekennzeichnet wird. Tatsächlich erweist sich „Intelligenz“ als treffender und für den Vergleich geeigneter als intelligencija (das heute als intelligentsia ja auch im weltweiten Kontext benutzt wird), nicht nur weil der Begriff älter ist und in verschiedenen Ländern gebraucht wurde, sondern vor allem, weil ihm die bei dem russischen Pendant immer assoziierte Konnotation der oppositionellen Weltanschauung fehlt. In Abgrenzung zu den „Intellektuellen“ (und dem russischen intelligent) geht es hier auch nicht um einen (vereinheitlichenden) Typ, sondern in erster Linie um die Gruppe, gerade auch in ihrer Genese und inneren Vielfalt. Dass aber – trotz der aufgezeigten parallelen oder sogar ge­meineuropäischen Erfahrungen – auch für „Intelligenz“ letztlich keine klare, allgemeinverbindliche Definition (bei der „diffusen“ Gruppe kein „fester Kern“, S. 193) zu finden ist, macht die Schwierigkeit des untersuchten Gegenstands aus – und die Kombination verschiedener Begriffe in Titel und Untertitel notwendig.

Um diese Gruppe „in Europa“ zu untersuchen, betrachtet der Autor nacheinander vier nationale Ausformungen: eine west-, zwei mittel- und eine osteuropäische: die französische, deutsche, polnische, russische bzw. – wie er, angesichts ihres multinationalen Charakters [S. 143, 170] selbst an passender Stelle präzisiert – russländische (S. 206). Dabei integriert er Begriffs- und Sozialgeschichte (mit Schwergewicht auf letzterer) mit Ansätzen zur Alltagsgeschichte. Für alle Fallbeispiele erörtert er die sozialen Träger, Medien, Institutionen und Lebensformen, wobei die vier Einzel-„Porträts“ (S. 103) mit einer Fülle konkreter Informationen und abstrahierender Überlegungen letztlich Idealtypen darstellen. Schon beim Aufbau dieser Porträt-Galerie zieht Sdvižkov immer wieder Vergleiche (vor allem durch Rückbezüge, gelegentlich auch durch vorausschauenden Verweis auf die noch darzustellenden Fälle). Im zweiten Teil (S. 185–234) erörtert er Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Forschungsperspektiven dann systematisierend.

Letztlich könnte man sein Buch auch als weitere Hinterfragung der Einteilung Europas in Ost und West lesen: Denn während die Befunde zur sozialen Herkunft eine solche Zweiteilung nahelegen, stehen die französische, deutsche und polnische Intelligenz, sämtlich durch die lateinische Kultur geprägt, gemeinsam der russischen gegenüber. Im Verhältnis zur Religion dagegen sind sich die geographischen Extreme, der französische und russische Fall, am näch­sten. Am interessantesten erscheint das Verhältnis von Intelligenz und Nation – nicht nur deshalb, weil die Diskussion über die Intelligenz etwa zur selben Zeit begann wie der „Aufbruch des Nationalismus“ (S. 227). Zum einen steht hier nämlich drei nationalen Intelligenzen die multinationale russisch-russländische gegenüber (deren Integrationsfähigkeit bei weiterbestehenden konfessionellen und nationalen Eigenheiten Sdvižkov aber vielleicht überbetont; S. 206). Zum anderen aber verstand sich die Intelligenz ihm zufolge überall als Trägerin der Nationalkultur, lebte jedoch gleichzeitig im internationalen geistigen Austausch (nicht nur schriftlich-verbal, sondern auch reisend kommunizierend).

In Weiterführung dieser Beobachtung bliebe die Intelligenzgeschichte als Beziehungsgeschichte noch zu schreiben (S. 231), ein zusätzliches, gewiss ebenso spannendes „intellektuelles Abenteuer“ (S. 20) wie das hier unternommene; denn keinesfalls ist das Buch, wie vom Autor mit Blick auf die angestrebte ‚Neutralität‘ formuliert, „als eine Art Nachschlagewerk“ (S. 19) zu benutzen. Und man kann es auch nicht, wie vom Verlag angepriesen, Studenten als „problemorientierte Einführung“ in die Hand geben. Vielmehr ist es ein Buch für Leser, die über eine gewisse Grundkenntnis der einzelnen Fälle – und möglichst auch über die einschlägigen Sprachkenntnisse – schon verfügen; nur, wer sie hat, wird die gern eingestreuten spezifischen Bezeichnungen und Begriffe (als Beleg der dahinterstehenden Wahrnehmungen) würdigen und genießen können, während sie für andere, trotz beigefügter (und nicht immer ganz geglückter) Übersetzung, zu Stolpersteinen bei der Lektüre werden können. Gegen die Empfehlung als Studentenlektüre sprechen auch die Unzahl von Druckfehlern, fehlenden diakritischen Zeichen im Französischen und Polnischen und Versehen bei der Transliteration aus dem Russischen, beim Gebrauch des Artikels und der Kasus im Deutschen. Zudem verwirren die Verwechslung ähnlicher Wörter („Aus­gelassenheit“ statt „Gelassenheit“, „bewußtlos“ statt „unbewußt“, „sekundäre“ statt „Sekundarbildung“, Lösung „von den klassizistischen Kanonen“ statt „Kanons/canones“ etc.) und eigenwil­lige Neuschöpfungen („Anti-Identifizie­rung“, „zwischenständige Ehen“). Am stö­rend­sten wirkt das alles in der Einführung und im ersten Kapitel.

Wie gesagt: Einen russischen Allgemeinhistoriker um eine vergleichende Studie zu bitten, war eine großartige Idee. Tatsächlich einen Kollegen gefunden zu haben, der die dafür nötigen mindestens fünf Sprachen lesen kann (und vermutlich noch ein, zwei weitere), war ein Glücks­fall. Sdvižkovs Lektüreleistung, gedankliche Durchdringung und Übersicht über das Ganze nötigen Respekt ab – gelegentliche Vereinfachungen oder Irrtümer im Detail sowie eigentümliche Klassifizierungen (das Elsass als „Pufferzone“) fallen da nicht ins Gewicht. Große Hochachtung gilt auch seiner Fähigkeit, sich in einer Fremdsprache differenziert auszudrücken. Gerade deshalb ist es aber schlechterdings unverständlich, warum der Verlag nicht wenigstens in diesem Fall einen Lektor mit der Bearbeitung des Manuskripts beauftragt bzw. warum der Autor keine deutschen Kollegen gefunden hat, die in der Lage waren, sein Manuskript so zu bearbeiten, wie es das verdient hätte – um das höchst lesenswerte Buch leichter lesbar zu machen.

Trude Maurer, Göttingen

Zitierweise: Trude Maurer über: Denis Sdvižkov: Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Goettingen 2006. = Synthesen. Probleme europaeischer Geschichte, 3. ISBN: 978-3-525-36802-2 , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 429-430: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maurer_Sdvizkov_Zeitalter.html (Datum des Seitenbesuchs)