Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), 1, S. 126-127

Verfasst von: Trude Maurer

 

Franziska Rogger, Monika Bankowski: Ganz Europa blickt auf uns! Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Mit einem Nachwort von Franziska Frey-Wettstein. Baden: hier + jetzt, 2010. 292 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-03919-146-8.

Anders, als der Titel suggeriert, steht im Zentrum dieses Buches nicht die Gruppe der Studentinnen aus dem Russischen Reich in der Schweiz, sondern eine einzelne Frau: die adlige Medizinstudentin, promovierte Hausfrau (ohne Staatsexamen und kantonale Approbation) und sich schließlich Ende vierzig, nach einer Ausbildung in Schweden, als Spezialistin für „schwedische Heilgymnastik und Massage“ selbständig machende Virginia Schlykowa-Abeljanz (Virginija Vasil’evna Šlykova) aus Moskau (18531949), die in verschiedenen Schweizer Kurorten, Kairo und Nizza praktizierte und ihr doch unzulängliches Einkommen durch Entwicklung und Vertrieb einer Schlankheitssalbe sowie eines „Gesundheitscorset“ („Orthon“!) ergänzte. Als der Erste Weltkrieg den Schweizer Tourismus zum Erliegen brachte, wirkte sie bis zum 84. Lebensjahr als Massagelehrerin zweier Pflegerinnenschulen. Wie wenig repräsentativ dieser ungewöhnliche Weg – vom Jugendideal sozialen Engagements in Russland zur geschäftstüchtigen Physiotherapeutin in der Schweiz – war, ersieht man nicht zuletzt daran, dass sich die Doktorandin für ihre Disputation ein Kleid aus Paris kommen ließ (S. 141).

Zwar werden eingangs einige leitende Gesichtspunkte genannt: die (divergierenden) „Lebensentw(ü)rf(e)“ von Šlykova und Abel’janc (S. 10), „Ideen und Alltag“ der Pionierinnen des Frauenstudiums sowie „Anpassungs- und Integrationsbemühungen der ehemaligen Russinnen“ (S. 11). Historisches Umfeld sowie jeweiliges Milieu sind sorgfältig recherchiert (bis zum Inhalt des „Leseschranks“ ihrer Pension im Unterengadin, S. 245). Auch das Frauenstudium im Russischen Reich und in anderen Ländern wird (nicht ganz fehlerfrei) als Hintergrund einbezogen. Doch der Wechsel zwischen personenzentrierter, weitgehend chronologisch erzählender Darstellung und Einschüben von kürzeren Quellentexten und Übersichten macht, zusammen mit der geradezu verschwenderischen Bebilderung, aus dem Band ‚nur‘ ein attraktives ‚Lesebuch‘: Es ist interessant, anschaulich, leicht konsumierbar – aber auch wenig eindringlich. Das Allgemeine haben dieselben Autorinnen (eine Historikerin und eine Slavistin) schon in anderen Veröffentlichungen dargelegt; das Besondere, die Biographie Šlykovas (einschließlich „Entfremdung, Neid, Eifersucht, Ehekrieg und Scheidung“, S. 253), bekommt mit den um sie herum gruppierten Informationen zwar den nötigen Kontext, wird aber dadurch nicht wirklich aufschlussreicher. So bietet das Buch weniger eine stringente Analyse als ein Panorama, in dem man die Blicke hierhin und dorthin schweifen lassen kann: auf die Biographie ihres armenischen Ehemannes, des Zürcher Assistenten und späteren Professors für experimentelle anorganische Chemie Haruthiun Abeljanz, sowie auf verschiedene andere studierende und studierte Frauen.

Die Autorinnen haben ein reiches Quellenkorpus erschlossen: v. a. Korrespondenz (Šlykovas, ihres Mannes, ihrer Kinder), Šlykovas ungedruckte Erinnerungen, Briefe des 25 Jahre in Russland tätigen Schweizer Mediziners Friedrich Erismann, des ersten Gatten der ersten promovierten russischen Medizinerin Nadežda Suslova (aus dem Staatlichen Archiv in Simferopol’), Dokumente aus diversen Schweizer Archiven. Doch lehnt sich der Text zu stark an die Quellen an: paraphrasierend und ausgiebig zitierend. Am Ende folgen die Autorinnen der Familienkorrespondenz (mit den erwachsenen Kindern) bis ins für das Thema des Buches belanglose Detail (s. als Beispiel S. 241243.) So wird das Verdienst, das in der anschaulichen Darstellung von Lebensverhältnissen, Studienerfahrungen und Promotionsverfahren der ersten Studentinnen besteht, mit der zweiten Hälfte des Buches fast verdeckt.

Trude Maurer, Göttingen

Zitierweise: Trude Maurer über: Franziska Rogger, Monika Bankowsk:i Ganz Europa blickt auf uns! Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen. Mit einem Nachwort von Franziska Frey-Wettstein. Baden: hier + jetzt, 2010. ISBN: 978-3-03919-146-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maurer_Rogger_Bankowski_Ganz_Europa_blickt_auf_uns.html (Datum des Seitenbesuchs)

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