Jan Kusber Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2004. IX, 497 S. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 65. ISBN: 3-515-08552-1.

Von den Bewertungen der Schulreformen Katharinas II. in ihrem 200. Todesjahr hat sich Jan Kusber zu seiner Kieler Habilitationsschrift anregen lassen. Sie nimmt zwar das russische Schulwesen von Peter dem Großen bis zu Nikolaus I. in den Blick, macht dabei aber die Grundlegung eines allgemeinen Schulsystems von 1786 zum Dreh- und Angelpunkt. Zwei Fragen verfolgt er in seiner Langzeitstudie: Welche Bedeutung hatte der Faktor „Bildung“ bei der Formierung eines ‚neuen Sozialkörpers‘ (K.-E. Jeismann), der Leistungselite des Zarenreichs, und welche Wirkungsmacht entfalteten die Ideen und Konzepte der katharinäischen Epoche über ihre eigene Zeit hinaus? Mit ihrem „überständischen, koedukativen“ (S. 438) Schulsystem wollte Katharina, so sein Schluss, die Funktionselite nicht ersetzen, sondern verbreitern und zugleich höher qualifizieren. Indem sie mit ihren Beratern dafür die Vervollkommnung des Individuums anstrebte, setzte sie eine „Eigendynamik“ (S. 441) in Gang, die auch von dem auf Ordnung und Kontrolle zielenden nikolaitischen Schulsystem nicht mehr zum Halten gebracht werden konnte.

Dabei bestätigen Kusbers Untersuchungen zur Umsetzung der Reformen und Neuregelungen in beiden Epochen die alte Erkenntnis, dass im Russischen Reich umfassendere Initiativen zur Volksbildung nicht verwirklicht werden konnten, sondern nur Ausbildungsgänge für die Funktionselite (S. 442), diese jedoch – und dieser Befund überrascht – gerade in dem Umfang, der der Größe des Beamtenapparates entsprach (S. 443). Die Umsetzung untersucht Kusber jeweils für verschiedene Regionen des Zarenreiches, so dass auch die kulturellen Unterschiede dieser Gebiete, ihre spezifischen Bedürfnisse und möglichen Sonderentwicklungen in den Blick kommen, etwa die von den polnischen Zuständigen angestrebte und partiell auch erreichte „Polonisierung“ (S. 378) des Wilnaer Lehrbezirks Anfang des 19. Jahrhunderts.

Auch wenn Kusber sich des aktuellen Begriffs „Diskurs“ bedient, handelt es sich um eine herkömmliche Geschichte des Schulwesens. Und diese Einordnung bezeichnet die Leistungen dieses Werks wie auch seine Grenzen: Es ist ein grundsolides Buch, aber Neuland betritt es nicht – weder methodisch noch von der Quellenauswahl her. Wie in der Bildungsgeschichte üblich, werden Reformvorschläge (auch in der Publizistik), ihre legislative und reale Umsetzung sowie die darauf folgenden Reaktionen aufeinander bezogen. Des Begriffes „Diskurs“ bedarf es dafür eigentlich nicht.

Das Ergebnis ist nicht eine Bildungsgeschichte, sondern eine Geschichte des staatlichen säkularen Schulwesens, genauer – der Schulen verschiedener Stufen und ansatzweise auch der Universitäten, nicht jedoch aller dem Ministerium der Volksaufklärung unterstehenden Hochschulen. Für Historiker, die sich nicht schon selbst eingehender mit russischer Bildungsgeschichte beschäftigt haben, bietet es einen nützlichen (wenn auch stellenweise vielleicht zu detaillierten) Überblick und, mit seinem gelehrten Apparat, einen kritischen Zugang zu weiterer Literatur. Spezialisten finden darin manche neuen Details und gewisse Neubewertungen, insbesondere der Schulreformen unter Katharina II. sowie der Regelung unter Nikolaus I. Außerdem bietet es Bemerkungen zu gewandelten Inhalten des Begriffs prosveščenie, auch wenn eine wirkliche Begriffsgeschichte weiterhin ein Desiderat bleibt. Angesichts des positiven Befunds über das Weiterwirken katharinäischer Vorstellungen auch unter Nikolaus I. vermisst man jedoch für die Zeit nach 1828 Hinweise auf die ständische Differenzierung, die mit der Einrichtung unterschiedlicher Gymnasialabteilungen und den ihnen zugeordneten Abschlüssen verbunden war.

Insgesamt sehr reflektiert, hat das Buch doch eher den Charakter einer (teilweise weiterführenden) Synthese als den der Neuerschließung eines Forschungsfeldes. Dabei stützt sich Kusber in erster Linie auf die akribische Auswertung (auch entlegener) gedruckter Quellen und z.T. sehr spezialisierter und lokaler Sekundärliteratur und erst in zweiter Linie auf archivalische Quellen. Für die petrinische Zeit werden solche allerdings gar nicht herangezogen, und für die späteren Epochen tragen sie an manchen Stellen nichts Neues bei, etwa wenn ein langes Dokument ohne Bezug auf Details nur als Beleg für bekannte Tatsachen verwandt wird (S. 334).

Die Bildungsgeschichte ist eines jener Gebiete, auf denen die Beziehungen zwischen Russland und dem deutschen Sprachraum am intensivsten waren, auf denen sich eine produktive Aneignung des fremden Vorbilds beobachten lässt und die sich deshalb auch für den Vergleich in besonderer Weise eignen. Der Autor ist mit der Standardliteratur zum deutschen und österreichischen Schulwesen der Zeit vertraut und nutzt sie auch zur Formulierung seiner eigenen Fragestellungen. Deshalb ist es umso bedauerlicher, dass dieses Buch für den kleinen Kreis von Russlandhistorikern geschrieben ist: Buchtitel (etwa von Fibeln), Namen von Vereinigungen und russische Termini (etwa rossijskij, bratskie školy) bleiben oft ohne Verdeutschung. Dagegen wird die Terminologie wörtlich aus dem Russischen übersetzt, statt die funktionalen Äquivalente zu benutzen. So könnte der Begriff „Mittelschulen“ mit dem Russischen nicht vertraute Leser durchaus auf eine falsche Fährte führen, denn im Deutschen meint er (im Gegensatz zum Russischen) nur Sekundarschulen, die nicht zur Hochschulreife führen. Die anderen dagegen bezeichnet man als „höhere Schulen“. Ebenso irreführend ist die Bezeichnung „höhere Schule“ statt „Hochschule“. Zumindest irritierend ist auch der veraltete Gebrauch der Begriffe „Pension“ und „Pensionswesen“ anstelle von „Pensionat“ bzw. „Pensionatserziehung“. Für manchen Leser wäre vielleicht auch eine Erläuterung des mehrfach bemühten – und, wie es scheint, überinterpretierten – Zitates von Lotmans Überschrift „Die Jungen aus Peters Nest“ hilfreich, das seinerseits allerdings ein Puškin-Zitat ist!

In der formalen Gestaltung hat bei der Druck­legung leider die nötige Sorgfalt gefehlt. Letzte stilistische Korrekturen wurden nicht kon­sistent durchgeführt, zahlreiche Trennungs- und Schreibfehler (auch in Autorennamen und Buchtiteln) sowie unterschiedliche Schreibweisen bei den Buchkurztiteln fallen ins Auge. Der Text ist zwar stellenweise ambitioniert, insgesamt aber nicht sehr eingängig formuliert, und gelegentlich stößt man auf Sätze, die auch beim wiederholten Lesen nicht wirklich klar werden. Insgesamt also ein nützliches, für die erwartungsvolle Rezensentin aber nicht wirklich inspirierendes Buch.

Trude Maurer, Göttingen

Zitierweise: Trude Maurer über: Jan Kusber Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2004. IX, 497 S. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 65. ISBN: 3-515-08552-1., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 1, S. 111-112: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maurer_Kusber_Eliten_und_Volksbildung.html (Datum des Seitenbesuchs)