Heiko Haumann (Hrsg.) Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2003. 337 S., 1 Abb. = Lebenswelten osteuropäischer Juden, 7. ISBN: 3-412-06699-0.

Der hier anzuzeigende Band aus der von Heiko Haumann herausgegebenen Reihe, die „Lebensverhältnisse und Alltag, Werte, Normen und Einstellungen, Denken, Fühlen und Verhalten der Juden“ ebenso vergegenwärtigen möchte „wie das Zusammenleben mit der nichtjüdischen Umwelt und das Einwirken politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen“ (Vorsatzblatt), geht auf ein weit zurückliegendes Forschungsprojekt (1993–1996) zurück, aus dem bereits eigenständige (und früher publizierte) Veröffentlichungen der einzelnen Beteiligten hervorgegangen sind. Er umfasst vier Beiträge von drei Autoren. Einleitend skizzieren Monica Rüthers und Desanka Schwara gemeinsam „Regionen im Porträt“ (S. 11–70), indem sie – nach Ausführungen über die verschiedenen Dialekte des Jiddischen und allgemeinen Bemerkungen über die Siedlung der Juden inmitten einer multikulturellen Umgebung – Polen, Litauen und Weißrussland sowie Galizien und die Bukowina als drei historisch unterschiedlich geprägte Regionen mit ihren wichtigsten Städten (und ihrer jeweiligen jüdischen Infrastruktur) vorstellen. Auch wenn dieser Text für den, der sich in diesem Themenkreis etwas auskennt, kaum etwas Neues bietet, wüsste man doch keinen solchen Überblick zu nennen, den man z.B. Studenten an die Hand geben könnte, die beginnen, sich mit den Juden Ostmittel- und Osteuropas zu beschäftigen. Insofern ist dieser Beitrag durchaus willkommen.

„Luftmenschen – Ein Leben in Armut“ untersucht Desanka Schwara (S. 71–222). Die Armut als Folge der Arbeitslosigkeit, die sich aus wirtschaftlichem Wandel bei gleichzeitig weiter­bestehenden Berufsbeschränkungen ergab, wird hier aufgegliedert in die ausführlich dargestellten Lebensbedingungen, den Wandel der Wahrnehmung und Bewertung der Armut, die Formen und Folgen ihrer Bekämpfung – bis hin zu einer Distanzierung von den Armen, die sich in der im 19. Jahrhundert schließlich organisierten, professionalisierten (und damit unpersönlichen) Hilfe ausdrückte (S. 216). Indem Schwara erörtert, was Armut für die einzelnen Lebensbereiche bedeutete, kommen auch Aspekte zur Sprache, die man hier vielleicht nicht erwarten würde, wie etwa der Verkauf gebrauchter Kleidung der Zöglinge des Rabbi­nerseminars in Wilna oder die Ahndung von Verstößen gegen die Bekleidungsvorschriften, die aus den Polizeiakten rekonstru­iert werden. (Dies führt zu dem Schluss, dass die Strafen da, wo Juden und Beamte sich – als Gruppen – kannten, gering waren, selbst bei „haarsträubenden“ Rechtfertigungen [S. 116]).

Die Veränderung der Frauenleben im 19. Jahrhundert behandelt Monica Rüthers (S. 223–307) entlang den einzelnen Lebensabschnitten und jeweils eingebunden in das Leben der sozialen Gruppe. Abschließend präsentiert sie dieselben Befunde noch einmal anders, indem sie „die Frauen als handelnde Subjekte“ dar­stellt, „die sich im gegebenen Rahmen ihre Handlungsräume selber schufen und gestalteten“. Trotz der veränderten Perspektive wirkt das meiste, was hier „nochmals aufgegriffen“ wird (S. 296), allerdings wie eine Wiederholung. Mehrfach hebt Rüthers die Anpassung an die bürgerliche Frauenrolle (die im wesentlichen auf das Haus beschränkt war, während Jüdinnen traditionell ja oft der Erwerbstätigkeit nach­gingen, um ihren Männern ein Leben des religiösen Studiums zu ermöglichen) hervor – mit allem, was dazu gehört, einschließlich des sich wandelnden Geschmacks und modischer Vorlieben. Doch fragt man sich, welches Bürgertum sich die Jüdinnen im polnischen und russischen Kontext denn da zur Zielgruppe genommen haben könnten. Auch fehlen, obwohl gelegentlich von den „aufgeklärten“ Kreisen die Rede ist, klare Hinweise auf die Verbreitung der dargestellten Phänomene.

Abschließend unternimmt es Heiko Hau­mann, die Befunde in einen größeren Kontext einzubinden. Dafür setzt er bei den früheren Erschütterungen des Bewusstseins der osteuropäischen Juden nach dem Chmel’nickij-Aufstand an, welche sich im Sabbatianismus und Frankismus ausdrückten, knüpft an das schon dort deutlich gewordene Streben nach Befreiung von allen Autoritäten und umfassender Emanzipation an und versteht die „Dynamik“, die schließlich im 19. Jahrhundert „die angeblich so geordnete Lebenswelt der Individuen aus den Fugen brachte“ (S. 316), als deren Fortsetzung. Zugleich versucht er, um Vorarbeiten eines weiteren Projektbeteiligten zu integrieren, die jiddische Belletristik als historische Quelle vorzustellen, die den aus anderen Quellen gewonnenen Eindruck „vertieft und differenziert“ (S. 333) – ohne allerdings die methodischen Fragen einer derartigen Verwendung fiktiver Literatur auch nur anzureißen. Die von ihm selbst auch in früheren Veröffentlichungen schon mehrfach angeführte, einst von Nathan Birn­baum geprägte Vorstellung des Ostjudentums als einer „geschlossenen Kulturpersönlichkeit“ sucht Haumann – trotz der vielen Differenzierungen und inneren Gegensätze – auch hier zu bewahren, indem er die verschiedenen neuen Strömungen auf eine gemeinsame erfolgreiche Bewahrung der Solidarität und Autonomie zurückführt.

Die Beiträge basieren in erster Linie auf einem (relativ kleinen) Korpus von Selbstzeugnissen, vor allem Erinnerungen, aber auch auf Dokumenten in polnischen, israelischen und amerikanischen Archiven. Sie sind alle reich an (oft ausführlichen) Zitaten. Das macht die Texte anschaulich, ist aber keine wirkliche Hilfe, da die Zitate immer wieder (und sogar noch in den Schlussabsätzen der einzelnen Beiträge) in die Fülle der Details hinein locken, statt mit abstrahierenden Zusammenfassungen zu allgemeineren Schlussfolgerungen zu führen. Diese eher ‚ablenkende‘ Wirkung wird noch dadurch verstärkt, dass es sich nicht nur um Zitate aus Quellen, sondern auch aus älterer Sekundärliteratur handelt, auch auf Englisch oder Französisch, die in den Text integriert werden und ihm passagenweise geradezu den Charakter von Collagen verleihen. Dazu kommen (gelegentlich große) zeitliche Sprünge. Die verwendeten Konzepte werden nicht definiert. („Akkulturation“ und „Assimilation“ werden teilweise synonym gebraucht, teilweise als unterschiedliche Grade desselben Prozesses verstanden; „Bürger­tum“, „bürgerlich“, „Verbürgerlichung“, über die es, gerade im Kontext der [deutsch-]jüdischen Geschichte, eine reiche Literatur gibt, werden ebenfalls als quasi aus sich selbst heraus verständlich benutzt.) Dass weder den einzelnen Beiträgen noch dem Band als Ganzem ein Literaturverzeichnis beigegeben ist, erschwert das Auffinden der bibliographischen Angaben bei wiederholtem Verweis auf denselben Titel. Und angesichts der sowohl innerhalb der einzelnen Aufsätze als auch in verschiedenen Beiträgen mehrfach angesprochenen Aspekte (etwa Bildung, Prostitution, Veränderung der Kleidung) wäre ein Sachregister wünschenswert gewesen.

Trude Maurer, Göttingen

Zitierweise: Trude Maurer über: Heiko Haumann (Hrsg.): Luftmenschen und rebellische Toechter. Zum Wandel ostjuedischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Boehlau Verlag Koeln, Weimar, Wien 2003. 337 S. = Lebenswelten osteuropaeischer Juden, 7. ISBN: 3-412-06699-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 104-105: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maurer_Haumann_Luftmenschen.html (Datum des Seitenbesuchs)