Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Bernd Martin

 

Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Nikolaus Wolf (Hrsg.) Interesse und Konflikt. Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen, 1900–2007. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2008. 339 S., Abb., Ktn, Tab. = Veröffent­lichungen des Deutschen Polen-Instituts, 25. ISBN: 978-3-447-05677-9.

Für die letzten hundert Jahre die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen thematisiert zu haben, stellt ein großes Verdienst des Polen-Instituts dar, das 2007 eine entsprechende Tagung veranstaltete, auf welche das vorliegende Sammelwerk zurückgeht.

Allgemein sind noch zwei weitere Aspekte als Positiva hervorzuheben: Zum einen beschäftigen sich inzwischen auch junge deutsche Nachwuchswissenschaftler intensiv mit diesen Fragen, so dass das bislang weitgehend polnisch besetzte Forschungsfeld nun nicht mehr allein von den Kollegen aus unserem Nachbarland bearbeitet wird. Zum anderen zeigen alle Abhandlungen, auch wenn sie es nicht immer explizit ausführen, dass in den beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen über den ganzen Zeitraum hinweg der Primat der Politik waltete, was sich wohl erst mit Polens Beitritt zur EU allmählich zu ändern scheint. Den Positiva gegenüber fallen die Schwächen einzelner Beiträge nicht so sehr ins Gewicht. Manche Abhandlungen sind schlicht überflüssig (Heinemeyer und Piotrow­ska), andere ersticken in Zahlenkonstruktionen (Morawski) oder huldigen, wie einige polnische Beiträge, der Auffassung, Wirtschaftsgeschichte sei eine Art Naturwissenschaft, indem sie, statt eine eigene Interpretation zu bieten, wissenschaftliche Positionen verschiedener Autoren einander gegenüberstellen.

Das einführende Referat (Wolf) sowie das abschließende (Bingen) bilden einen vorzüglichen Rahmen. Ersteres behandelt die Problematik aus historischer Sicht, in welcher Polen immer der von Deutschland abhängige Partner war. Letzteres konzentriert sich auf die moralische Dimension, als nach dem Zweiten Weltkrieg der „Menschenhandel“ die Wirtschaftsbeziehungen bestimmte (westdeutsche Zugeständnisse gegen polnische Ausreisegenehmigungen für Angehörige der deutschen Minderheit). Als weiterer Überblick ist der Aufsatz des Posener Wirtschaftshistorikers Kowal zu werten, der nüchtern die Fakten bringt und ebenso nüchtern die wirtschaftliche Überlegenheit der deutschen Seite konstatiert.

Der Zeit des Zweiten Weltkrieges sind verständlicher Weise mehrere, recht aufschlussreiche Artikel gewidmet. Das Thema nationalsozia­listische Wirtschaftspolitik im annektierten bzw. besetzten Polen scheint indes noch längst nicht erschöpfend behandelt. Marxistische Schatten, gegen die der jüngst verstorbene Pionier der polnischen Forschung zur deutschen Besatzungspolitik Czesław Madajczyk vergeblich anging, wirken noch nach und verstellen den Blick auf den Alltag des Wirtschaftslebens, das meist nicht den Vorstellungen des Generalgouverneurs Frank entsprach (Loose). Zu lapidar wird indes die Zeit der Annäherung zwischen Hitler-Deutschland und Piłsudski-Polen behandelt, in welcher der Handel (und nicht nur der Kulturaustausch) allgemein einen Aufschwung genommen haben muss. Die Situation im Generalgouvernement des Ersten Weltkrieges war von der des folgenden Krieges grundverschieden. Zwangsrekrutierungen unterblieben auf ausdrückliche Weisung des deutschen Militäroberbefehlshabers von Beseler, dessen Vermächtnis für die polnische Staatsbildung weitgehend unbekannt ist. (Siehe dazu die demnächst vorliegende Freiburger Habilitationsschrift von Arkadiusz Stempin.)

Der Schwarzhandel, ein bekanntes, aber kaum behandeltes Sujet, hätte seinen Platz im Eingangsabschnitt über die „longue durée“ finden müssen. Nicht nur grenznahe Schmuggler haben immer wieder vom illegalen Handel gelebt – im Kaiserreich von dem mit Gänsen und heute mit dem von Zigaretten –, sondern das Überleben ganzer Bevölkerungsteile hing partiell schon im Ersten Weltkrieg und dann vor allem von 1939 bis 1989 vom illegalen Handel ab, was nicht zuletzt polnische Mentalitäten (Chu­miński) geprägt und deutsche Vorurteile genährt hat. Ein aufschlussreiches Aperçu zu diesem Aspekt ist der Schwarzhandel von Arbeitern der Reichsbahn, die den sowjetischen Transit über Polen in den ersten Nachkriegsjahren bewältigen mussten (Kopper). Noch in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, so sei aus persönlicher Erfahrung angemerkt, wurde die Ladung der Mitropa-Speisewagen in Polen verhökert. Für Gäste blieb das rollende Restaurant daher meist geschlossen.

Sehr verdienstvoll sind die Beiträge, in welchen die wirtschaftlichen Rückwirkungen der politischen Wende auf die Wirtschaft der (ehemaligen) DDR und des postsozialistischen Polens untersucht werden (Bachmann/Płóciennek, Pet­rick, Röttger). Polen war auf sich allein gestellt, die gebende Hand des ‚großen Bruders‛ fehlte, so dass manche Fehlentwicklungen, die heute in den neuen Bundesländern festzustellen sind, den Polen erspart blieben.

Alles in allem ein sehr aufschlussreiches Sammelwerk zu einem bislang vernachlässigten Thema.

Bernd Martin, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Bernd Martin über: Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Nikolaus Wolf (Hrsg.) Interesse und Konflikt. Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen, 1900–2007. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2008. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, 25. ISBN: 978-3-447-05677-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Martin_Bingen_Interesse_und_Konflikt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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