Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 510-512

Verfasst von: Carol Marmor

 

Euphoria and Exhaustion. Modern Sport in Soviet Culture and Society. Hrsg. von Nikolaus Katzer / Sandra Budy / Alexandra Köhring / Manfred Zeller. Frankfurt a.M. [etc.]: Campus, 2010. 363 S., Abb. ISBN: 978-3-593-39290-5.

Die Sportgeschichte der Sowjetunion ist ein dankbares Feld zur Untersuchung der russischen Moderne. An der Schnittstelle des gesellschaftlichen und des kulturellen Wandels gibt der moderne Sport Auskunft über die Transformation der sowjetischen Gesellschaft, über die „Technologien der Macht“, die Repräsentationen von Herrschaft und deren Inszenierung, Wahrnehmung und Internalisierung. Der vorliegende Sammelband ist diesen Fragestellungen verpflichtet, um die vom Kalten Krieg bekannte Erzählung einer Sportmacht Sowjetunion (Riordan) neu zu interpretieren. Angestrebt wird eine allumfassende Darstellung, die die Inszenierung und Konstruktion sowjetischer „Sportkörper“ umfasst, nach dem Wechselverhältnis von sportlicher und medialer Inszenierung und nach den Grenzen der Räume des Sports fragt und diese mit der Perspektive von unten ergänzt. Das Werk bündelt Beiträge international renommierter Sporthistoriker, die im Herbst 2008 auf einer Tagung des DFG-Forschungsprojektes Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Sportes und der Körperkultur in der Sowjetunion aufgetreten sind.

Unterteilt in drei zusammenhängende Ober­themen Orte und Medien, Milieus und Erinnerung, Gender und Naturwissenschaften kommt ein allumfassendes Konzept zur Wirkung, das die Beiträge systematisch ordnen und interdisziplinär verorten möchte.

Eingeleitet durch Mike OMahony, geht der erste Themenblock der medialen Inszenierung des Sportes in der Stadttopographie, in der Architektur der Stadien und Sportstätten, aber auch in der zeitgenössischen Kunst, Skulptur, und Fotografie nach. Eka­teri­na Emeliantseva untersucht anhand der zeitgenössischen Fotografie die Sozialtopographie des Sports in St. Petersburg vor 1917. Es gelingt ihr zu schildern, wie die ständische Gesellschaft die Neuerfindung einer sportlichen Landkarte der Stadt zur Reproduktion von sozialer Differenz benutzte. Sandra Budy gibt anhand der Pressefotografie die Debatten über die Neugestaltung einer sozialistischen Gesellschaft wieder. Waren die Bildmotive der 1920er Jahre von Diversität und Spontanität geprägt, so wurde das bunte Nebeneinander in den 1930er Jahren von einer offiziellen Vision des Sozialistischen Realismus überschrieben. Alexandra Köhring gibt anhand der Projektierungsdebatten des Internationalen Roten Stadions und anderer Stadien in Moskau den Wandel der Körperkonzepte in den 1920er und 1930er Jahren wieder. Wenn noch in den 1920er Jahren der Körper an die Natur gebunden wurde, so bewegten sich die Körperbilder Ende der 1930er Jahre in Richtung einer Rationalisierung mittels Monumentalarchitektur. Bettina Jungen konfrontiert die gegensätzlichen Darstellungen von Sport in der sowjetischen Skulptur der 1930er Jahre als Versuche der Disziplinierung und Überwachung des Körpers im Foucaultschen Sinne. Der in Gips gegossene „Neue Mensch“ bildete starke, trainierte, athletische Körper ab. Die elegantere und filigranere Sportart Ballett war ideologisch weniger komplementär. Christina Kiaer vergleicht die Gemälde des sowjetischen Künstlers Alexandr Dejneka mit den persönlichen Fotografien der Schwimmerinnen Ljudmila und Evgenija Vtorova. Die Ablichtungen der Schwestern zeigen, wie das sowjetische Subjekt sich an das ideologische Bild vom Sport anpasste. Burcu Dogramaci veranschaulicht die Neuerfindung des Sports in der jungen nationalisierenden Türkischen Republik. Wurde noch im Ottomanischen Imperium Sport für kriegerische Zwecke benutzt, so förderte Kemal Atatürk abendländische Sportkulturen und eine Selbsteuropäisierung, um das Bild eines „kranken Mannes am Bosporus“ abzuschütteln.

Das zweite Themengebiet behandelt den sozialen Raum des Sportes, indem es nach der Autonomie und den Grenzen des Sports für soziale Milieus im erinnerungskulturellen Kontext fragt. Louis McReynolds betont in der Einleitung, auf diese Weise werde die Meistererzählung einer linearen Sportgeschichte der UdSSR aufgebrochen und durch alternative Deutungsebenen ergänzt. Karsten Brüggemann untersucht die Erinnerungsfiguren Georg Lurich, Georg Hackenschmidt und Kristjan Palusalu im imperialen und regionalen Kontext des Russischen Zarenreiches. Die Ringer haben auf den „emanzipativen Nationalismus“ der Esten gewirkt. Durch eine geglückte Selbstinszenierung der Sporthelden und die Zunahme der Vereins­tätigkeit wurde Sport am Anfang des 20. Jahrhunderts gesellschaftsfähig gemacht. Volodymyr Ginda zeigt die Entstehung einer Parallelgesellschaft ohne Angst und Schrecken unter nationalsozialistischer Herrschaft in der Ukraine 1941–1944 auf. Die Nationalsozialisten benutzten Sport als stabilisierendes Kontrollinstrument und als antisowjetisches und antisemitisches Propagandamittel. Den Ukrainern fiel bei der Organisation und der Finanzierung des Sports eine verantwortungsvolle Rolle zu, die nicht zuletzt auch Freiräume für die Verbreitung von nationalistischen Ideen bot. Robert Edelman hinterfragt die Beschreibungen des Stalinismus als ein totalitäres System. Der an den Rand gedrängte Fußballverein Spartak hat im Gegensatz zum russisch dominierten Fußballclub Dinamo Moskau und zum Armeeverein CDKA die sozial und politisch Ausgegrenzten angesprochen. In zeitgenössischen Kontext einer allgemeinen Xenophobie und des Sowjetpatriotismus hat der Griff nach nichtrussischen Spielern den Verein Spartak zu einem „Arbeitsmodell des sowjetischen Traumes der Multikulturalität, des Internationalismus und Verbrüderunggemacht. Manfred Zeller kontrastiert private sportbezogene Erinnerung an die Stalinzeit mit der offiziellen Erinnerungskultur in der Periode der Entstalinisierung. Anhand biographischer Interviews stellt Zeller fest, dass Sport nach 1953 einen neutralen Raum für Meinungsaustausch geboten habe, in dem die Erinnerung an die Gewaltgeschichte des Stalinismus selektiert und bewusst verdrängt wurde. Eva Maurer untersucht den sowjetischen Bergsteigertourismus in Kontrast zur offiziellen Ideologie. Als eine alternative Urlaubsgestaltung bot Bergsteigen Möglichkeiten zur sozialen und kulturellen Distanzierung für eine kleine Gruppe von Akademikern, Lehrern und Ingenieuren. Obwohl Bergsteigen durchaus als systemkonform eingestuft wurde, war der besondere, eigensinnige Charakter dieser Sportart als Rückzugsort bekannt.

Unter dem Obertitel Gender und Naturwissenschaften wird die Konstruktion und Inszenierung von „Sportkörpern“ durch körperkulturelle Konzepte und Praktiken behandelt. Am Beispiel der fizkultura-Bewegung geht Katerina Kobchenko der Frauenemanzipation der 1920er und 1930er Jahre nach. Das sowjetische Regime versuchte durch Sport Frauen zu erreichen, zu vorbildlichen Arbeiterinnen und „Soldaten der Revolution“ zu erziehen, eine Gleichheit der Geschlechter herzustellen. Das Bild einer weiblichen Sportlerin ordnete sich gleichwohl den dominierenden männlichen Körpervorstellungen im Sport unter. Die Emanzipation der Frauen führte zu Generationenkonflikten und kollidierte mit der traditionellen Rollenverteilung der Geschlechter. Anke Hilbrenner untersucht anhand der Sportzeitschriften die sowjetischen Vorstellungen von ženstvennost in der Brežnev-Ära. Das sowjetische Konzept der Feminität war sowohl von technischen Attributen als auch von geschlechtertypischen Stereotypen geprägt. Stefan Wiederkehr untersucht die Wahrnehmung des Frauenbildes auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges. Sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Presse gestalteten sich die Normen über weibliche Körper ähnlich. Mit Abweichungen von diesem Ideal ging man unterschiedlich um. Hans-Joachim Braun und Nikolaus Katzer untersuchen rationalisierte Körperdiskurse am Beispiel der „Verwissenschaftlichung“ des sowjetischen Fußballs in der Nachkriegszeit. Die enge Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Training nährte sich sowohl aus Biomechanik, Kybernetik, Tanz, Motorisierung und Psychologie. Nicht zuletzt dürfe der sowjetische Fußball nicht als ein kalter, vorprogrammierter Mechanismus verstanden werden. Irina Bykhovskaja betont, dass die ideologisch vorherrschende Doktrin und der Wertekanon der Zeitzeugen keine „parallelen Phänomene“ seien. Private Sphären könnten mit offiziellen Diskursen kongruent sein, müssten es aber nicht. Es sei dieser Perspektive mehr Forschung zu wünschen. Um das Wechselverhältnis von sportlicher und medialer Inszenierung zu untersuchen, sollte zudem eine Analyse der Entwicklung der (Sport-)Medien in der Sowjetunion, der Medialisierung des Sportes, aber auch der Reproduktion von Sportbildern erfolgen.

Die Beiträge zeugen insgesamt auf eine vielfältige Weise von der Entfaltung des modernen Sportes in der Sowjetunion und binden ihn in mikro- und makrohistorische Kontexte ein, indem sie kulturelle Deutungsmuster, Inszenierungen und Praktiken mit einbeziehen. Somit erfüllt der Sammelband bestens den Anspruch, eine universale und bunte Grundlagenarbeit über die moderne Geschichte des sowjetischen Sportes zu leisten.

Carol Marmor-Drews, Passau

Zitierweise: Carol Marmor über: Euphoria and Exhaustion. Modern Sport in Soviet Culture and Society. Hrsg. von Nikolaus Katzer / Sandra Budy / Alexandra Köhring / Manfred Zeller. Frankfurt a.M. [etc.]: Campus, 2010. 363 S., Abb. ISBN: 978-3-593-39290-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Marmor_Katzer_Euphoria_and_Exhaustion.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Carol Marmor. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.