Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 349-351

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

Christian Teichmann: Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920-1950. Hamburg: Hamburger Edition, 2016. 287 S., 1 Kte. = Studien zur Ge­walt­geschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-298-1.

In der zeitgenössischen Historiographie sind Begriffe wie Macht, Gewalt, Herrschaft, Ordnung zu Topoi und Analysekategorien geworden, ohne die eine Beschäftigung mit der Geschichte Osteuropas kaum noch denkbar zu sein scheint. Tatsächlich haben entsprechende Studien unser Wissen über das Russländische Reich und die Sowjetunion erheblich bereichert. Als Phänomene der Herrschaftssicherung und Durchsetzung neuer Ordnungssysteme haben diese Topoi ihren heuristischen Wert längst unter Beweis gestellt. Dass nun aber Macht keines Ordnungsprinzips bedarf, ja im Gegenteil Macht auf Unordnung beruhe, ist die These der vorliegenden Arbeit von Christian Teichmann. Er will am Beispiel Zentralasiens – einer „Achillesferse der Sowjetmacht“ (S. 13), wie er Stalin zitiert – zeigen, „dass […] Chaos und Leid gezielt als Instrumente benutzt wurden, um staatliche Herrschaftsordnung aufzubauen und mit brachialen Gewaltmitteln durchzusetzen“ (S. 15). Da Gedeih und Verderb dieser als vielfach rückständig betrachteten Peripherie der sich formierenden Sowjetunion von Wasserbau und Bewässerungssystemen abhingen, stehen diese Bereiche im Zentrum der Untersuchung.

James Scotts Analyseansatz folgend, Staatsbildungsprozesse aus der Perspektive ihrer geographisch isolierten Peripherien zu untersuchen und zu beschreiben, will Teichmann vor allem die Brüchigkeit und Begrenztheit sowjetischer Staatlichkeit zeigen, da ungeachtet massiver Eingriffe der Handlungsrahmen der bolschewistischen Machthaber beschränkt gewesen sei. Daher sei „Unordnungstiften zu ihrer dominierenden Handlungsweise“ (S. 21) geworden.

Basierend auf einem beeindruckenden Korpus von Archivalien aus russischen, usbekischen und amerikanischen Archiven versucht Teichmann, Stalins Zentralasienstrategie zu beleuchten und mit ihren verheerenden Folgen zu beschreiben. Nach einer kurzen Einführung folgt eine Skizze Russisch-Turkestans seit 1885, die allerdings nicht immer dem Stand der Forschung entspricht. Die sowjetische Zeit wird in sechs größeren Kapiteln behandelt. Zunächst geht es um die Etablierung der Sowjetmacht und die Gründung der Sowjetrepubliken, von denen Usbekistan und Tadschikistan wegen ihrer Bedeutung im Kontext des Wassermanagements im Zentrum der Untersuchung stehen. Sehr anschaulich werden die Spannungen und Kontroversen zwischen Moskauer Zentrum und indigenen Eliten untersucht, die Probleme der Landreform bzw. die Folgen der auseinanderlaufender Vorstellungen und Strategien dazu herausgearbeitet sowie die Besonderheiten des Wasserbaus dargestellt. Hier gelingt es Teichmann zu zeigen, wie sehr Erfolg oder Misserfolg von Qualität, Engagement und Selbstbewusstsein einzelner Ingenieure und Behördenvertreter abhing, aber auch von den spezifischen lokalen Besonderheiten, traditionellen Verhaltensweisen der indigenen Bevölkerung und vor allem auch von Geographie und klimatischen Verhältnissen. Ein Masterplan, der allen Umständen und Faktoren Rechnung getragen hätte, existierte nicht, und im übrigen führten Bürokratie, Korruption, Eigensinn, Verteilungskonflikte, sich ändernde Planvorgaben und politische Unwägbarkeiten zum Scheitern zahlreicher Wasserprojekte.

Die Verfügbarkeit von Wasser war vor allem für die Produktion von Baumwolle, eines Rohstoffes mit strategischer Bedeutung, unerlässlich. Dessen Anbau sollte um jeden Preis intensiviert, d. h. die Anbauflächen sollte auch auf Kosten der Nahrungsmittelversorgung erweitert werden. Teichmann beschreibt sehr eindrücklich das zerstörerische Potential dieser Politik. Diese musste meist gegen den Widerstand der wenig motivierten, weil hungernden Bevölkerung durchgesetzt werden und ließ, wie der Verfasser zu Recht hervorhebt, „keine staatliche Herrschaftsroutine entstehen“ (S. 251), da der so betriebene Baumwollanbau in der „Baumwollrepublik“ Usbekistan die finanziellen und personellen Ressourcen übermäßig strapazierte, die in anderen Sektoren fehlten. Daran konnte weder der Einsatz von Polizeigewalt noch anderer Disziplinierungsmittel viel ändern. Hier wird die Eskalationsspirale von Inkompetenz, Scheitern, Gewaltanwendung und daraus folgender Unsicherheit, Chaos und neuer Gewaltanwendung augenfällig.

Am Großbau im Wachsch-Tal zwischen 1930 und 1934, wo sozusagen ein „Baum­wollgarten in der Wüste“ (S. 144) entstehen sollte, wird in einem eigenen Kapitel das ganze Ausmaß der durch Fehlplanung, Mangelwirtschaft, Ignoranz, Selbstüberschätzung und Unterschätzung der naturräumlichen Gegebenheiten erzeugten Katastrophe dargestellt. Mit einem riesigen finanziellen Aufwand, der diktatorischen Allmacht eines von Stalin in den Pamir entsandten Vizeministers aus Moskau, der mit heroischer Kraftanstrengung das Unmögliche möglich machen wollte, sollte zum Wassermanagement ein Schleusenwerk gebaut werden, um Ackerland, Trinkwasser und Siedlungsraum zu schaffen. In der bisher von Fels, Wildwasser und Treibsanddünen beherrschten, von Menschen gemiedenen unwirtlichen Landschaft sah der Plan die Entstehung einer Kulturlandschaft vor, in der Kolonisten den Grenzraum sichern und auf vielen Tausenden Hektar Baumwolle anbauen sollten. Das Ergebnis war erschütternd: Die Schleuse war an der falschen Stelle errichtet worden, der Wachsch lief weitgehend daran vorbei, Geröll, Sedimente und Sand schädigten die Verteilungskanäle und das Wasser versickerte auf felsigem Grund. Wo es Kulturland erreichte, trug es zur Versumpfung der Böden bei und führte, weil durch keine Schleuse reguliert, zu Überschwemmung und dem Ertrinkungstod von Menschen.

Der ökologischen Katastrophe entsprechend war zudem der Schaden für das sowjetische State-Building, da das von Moskau befohlene und von dort aus betriebene Projekt ohne Rücksicht auf die Bedingungen in der Region durchgesetzt wurde und die zentralasiatischen Staats- und Parteiorgane materiell, institutionell und politisch nachhaltig destabilisierte. Daher, so Teichmann, widerspricht das Wachsch-Tal-Beispiel der These Moshe Lewins, dass der sowjetische Parteistaat bemüht gewesen sei, Chaos zu beenden und Recht und Ordnung zu behaupten. Allerdings weist Teichmann auch darauf hin, dass bei Projekten, die nach der Erfahrung im Pamir in Angriff genommen wurden, „Gründlichkeit über effektvollen Schnellschüssen“ (S. 213) gestanden habe.

Die Liste der Infrastrukturprojekte und anderen Aufbaumaßnahmen, die nach Teichmann vielfältigen Schaden anrichteten und folglich Unsicherheit und Unordnung zeitigten, ist lang und liefert genügend Beweise für die zerstörerische Natur und die Gewaltherrschaft der Bol’ševiki in Zentralasien. Mutatis mutandis gilt dies natürlich auch für die Zeit des Großen Terrors. In ihr kumulierte sozusagen Stalins Strategie, durch Ressourcenallokation der notleidenden Peripherie und ihren Führungen seinen Willen aufzuzwingen, indem er die Ministerialapparate überging und durch Mittelzuteilungen bzw. deren Verweigerung, was Hunger und Not zur Folge haben konnte, die regionalen Parteiführer zwang, sich mit ihm zu arrangieren. Die darin zum Ausdruck kommende Willkür stellte nach Teichmann ein zentrales Element der stalinschen Gewaltherrschaft, der Macht durch Unordnung dar. Sie sollte im Weiteren durch den Kampf gegen „Volksfeinde“, „Verschwörer“ und „Schädlinge“ bestätigt und gesichert werden.

In den abschließenden Kapiteln geht der Verfasser auf die Politik der „Volksbaustellen“ ein, die in der Vorkriegszeit das Massenmobilisierungsregime unter dem usbekischen Parteiführer U. Jusupov bestimmten. Durch Säuberungen des Parteiapparats, aber auch durch den Bau neuer, besser geplanter Bewässerungsanlagen sollten Fehler der Vergangenheit überwunden und die Baumwollproduktion erhöht werden. Dieses Ziel konnte aber trotz öffentlicher Schauprozesse, Erschießungsaktionen und anderer Gewaltkampagnen nicht erreicht werden. Während des Krieges verschlechterte sich zudem die Gesamtlage, als Hunderttausende von Flüchtlingen in Usbekistan Zuflucht suchten. Die Baumwollproduktion brach zusammen und Einheimische wie Kriegsflüchtlinge durchlitten eine Zeit von Hunger, Entbehrung und Krankheit. Schon 1944, so zeigt Teichmanns Darstellung, wollte Stalin durch neue Terrormaßnahmen den Anbau des begehrten weißen Rohstoffs wieder in Gang bringen. Es gelang ihm unter Inkaufnahme weiterer Opfer unter der Bevölkerung.

Teichmanns Studie stellt einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Sowjetisierung in den zentralasiatischen Territorien der UdSSR dar. Ihre Befunde belegen auch am Beispiel Sowjetisch-Turkestans, dass Brutalität, Terror, Gewalt, Willkürherrschaft und die Verbreitung eines endemischen Unsicherheitsgefühls zentrale Elemente der Staatsbildungspolitik und Herrschaftspraxis Stalins waren. Ob diese aber als „Macht der Unordnung“ apostrophiert dem komplexen Phänomen gerecht wird, muss bezweifelt werden; nicht zuletzt auch deshalb, weil das sowjetische State-Building, als Nation-Building konzipiert, gerade in den zentralasiatischen Gebieten neue, nämlich ethnisch-nationale Ordnungskategorien zur Herrschaftssicherung zur Anwendung brachte. Dieser Aspekt bleibt in der insgesamt sehr begrüßenswerten Studie etwas unterbelichtet.

Rudolf A. Mark, Hamburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Christian Teichmann: Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920-1950. Hamburg: Hamburger Edition, 2016. 287 S., 1 Kte. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-298-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mark_Teichmann_Macht_der_Unordnung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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