Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 451‒453

Verfasst von: Ekaterina Makhotina, München

 

Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano. Frankfurt a.M.: Fischer, 2011. 284 S., Abb. ISBN: 978-3-596-19064-5.

Kein anderes Dokument nimmt in der kulturellen Erinnerung der Juden Litauens einen so prominenten und zugleich schrecklichen Platz ein wie der sogenannteJäger-Bericht. Wie Ralph Giordano im Vorwort schreibt, sucht derJäger-Bericht in der Holocaustforschung seinesgleichen“ (S. 11): Es ist eine akribische, skrupellose Tag-für-Tag-Auflistung aller in Litauen ermordeten Juden zum 1. Dezember 1941, die mit einem ungeheuer zynischen Satz endet: Litauen könnemit Ausnahme derwenigen Arbeitsjuden“ – alsjudenfreigemeldet werden. Die Liste des Standartenführers der SS Karl Jäger über die Ermordung von 133.000 Menschen innerhalb von fünf Monaten nimmt einen zentralen Platz in den Museen und Gedenkstätten des Holocaust im heutigen Litauen ein. Die hier anzuzeigende Publikation von Wolfram Wette, einem der führenden Zeithistoriker, beschäftigt sich mit der Person Karl Jägers und zeigt ihn nicht nur in seinem Wirken als im Rahmen des Systems handelnden gewöhnlichenSchreibtischtäter, sondern auch sein Lebendanach. Das Buch kann somit nicht nur als Darstellung einer Täter-Biographie gelesen werden, sondern auch Zeugnis vom gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit auf der lokalen Ebene gebenbis zu seiner Verhaftung und seinem Tod im Jahr 1959 führte Jäger ein unbehelligtes Leben.

Fürdie erste Biografie des NS-Täters vor Ort“ stehen dem Autor Quellen unterschiedlicher Provenienz zu Verfügung, so die Vernehmungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg aus dem Jahr 1959, Protokolle der Vernehmungen Jägers und Aussagen derer, die ihn kannten, aus den Jahren 1989/90 sowie die Personalakte Jägers. Die Geschichte der Vernichtung litauischer Juden rekonstruiert Wette anhand von Erinnerungszeugnissen der Überlebenden (so beispielsweise der sehr eindringlichen Memoiren der Künstlerin Helene Holzmann aus Kaunas, deren Mann und Tochter ermordet wurden), von statistischen Archivdokumenten und einer Fülle an Forschungsliteratur. Drei Themen werden im Buch behandeltdie Person des SS-Offiziers Karl Jäger selbst, die bislang kaum erforscht wurde; das Holocaust-Geschehen im litauischen Teil des ReichskommissariatsOstland“; der Umgang mit der Person Jägers und der Kriegsgeschichte in der politischen und lokalen, kommunikativen Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland und Litauens.

Im ersten Teil der Studie schildert Wette den besonders engagierten Einsatz Jägers für die sogenanntenAktionen“ in Litauen und erklärt sie vor dem Hintergrund seiner Biografie und NS-Karriere: Er war älter und von niedrigerem Bildungsstand alsseine Kollegen. Nach Wette hat man es hier mit einem Täter zu tun, der mehr als andere Funktionsträger greifbare Erfolge erzielen und vorweisen musste, um vor seinen Kameraden und Vorgesetzten zu bestehen. Dafür mussten die Exekutioneneffizient gestaltet“ werden. DerJäger-Bericht“ sollte gleichsam als Zeugnis für die perfekte Arbeit Jägers dienen; er zeugt vom Arbeitseifer und „Zahlenfanatismus“ seines Verfassers, wie Wette feststellt.

Jäger war nicht nur ein Schreibtischtäterer fuhr selbst an die Orte der Massenerschießungen, um die Ausführung und die Folgen seiner Befehle zu beobachten. So war er unter den Mördern an den Juden Europas jener Zeit einer von besonderer Monströsität, und doch gelang es ihm, nach Kriegsende für lange Zeit unterzutauchen und in der Nähe von Heidelberg ein ungestörtes und friedliches Leben zu führen: Vierzehn Jahre lang suchte keiner nach ihm. Als ihm 1959 in Ludwigsburg für den Massenmord an litauischen Juden der Prozess gemacht wurde, zeigte er weder Reue noch Schuldgefühle, was, wie Wette schreibt, ein weit verbreitetes Phänomen für die Nachkriegsbiografien der Täter war. Seine verbrecherische Tätigkeit weiterhin abstreitend beging Jäger im Gefängnis Selbstmord. Am Beispiel des Umgangs mit der Person Jäger in seiner Heimatstadt Waldkirch kann der Autor deutlich machen, wie schwierig sich das Bewusstsein von der historischen Verantwortung auf der lokalen Ebene immer noch gestaltet. Die ältere Generation der Waldkircher, Zeitgenossen Jägers, wehren sich gegen das mit den von ihm begangenen Mordtaten begründete negative Bild von Jäger als Person. Man möchte also mit dem Verstorbenem Solidarität bewahren („er war einer von uns“; S. 182) und fordert einen Schlussstrich (S. 181). Diese Beobachtung Wettes ist höchst interessant vor dem Hintergrund des sonst verbreiteten Bildes von Deutschland alsWeltmeister der Vergangenheitsbewältigung“ (Péter Esterházy).

Im zweiten Teil der Studie schildert Wette anhand desJäger-Berichts“ das tragische Schicksal des litauischen Judentums während des Zweiten Weltkriegs. Spannend ist allemal die Überlieferungsgeschichte dieser historischen Quelle: 1944 in die Hände der Roten Armee gelangt, wurde der Bericht bemerkenswerterweise bei den Nürnberger Prozessen nicht vorgelegt, und tauchte erst 1963, nach dem Tod Jägers, wieder auf, als er von Moskau an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen für die Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg übergeben wurde. Wette macht klar, dass Litauen auf der europäischen Karte des Holocaust-Geschehens in Europa einen besonders dunklen Platz nimmt: Von etwa 240.000 jüdischen Bürgern Litauens wurden 200.000 ermordet – der Vernichtungsprozess ging hier besonders rasch und radikal vor sich. Der Autor entschlüsselt die nüchternen Zeilen desJäger-Berichts“ durch viele ergreifende Geschichten von Juden in Rokiškis, Zagare, Kedainiai, Jubarkas, in den Forts der Festung von Kaunas, allesamt Orten von Massenmorden. Die Schilderung des Holocausts geht im Buch über die Zeit des Berichts hinaus – dargestellt werden die Zwangsarbeit der Juden in den Ghettos, die Verbrennung der Leichen im Wald von Ponar und die vollständige Vernichtung der Ghettos im Spätsommer/Herbst 1943.

In diesem Zusammenhang thematisiert die Studie von Wolfram Wette im dritten Teil ein bis heute schmerzhaftes Kapitel der litauischen Geschichte – die Augenzeugenschaft und Täterschaft der Litauer beim Holocaust. Dieses Thema wurde jahrzehntelang verschwiegenin der sowjetlitauischen Historiografie sollten die Litauer als antifaschistisches Volk dargestellt werden. Erinnert werden sollten die sowjetischen Partisanen, nicht die litauische Mittäter, die alsBanditen“ oderbourgeoise Nationalisten“ aus der Vergangenheitskommunikation ausgeschlossen werden sollten. Diese Exklusion der Schuld und Verantwortung sollte in der Nachkriegsgesellschaft, die in ihrer Mehrheit der Rückkehr der Sowjetmacht feindselig gegenüberstand, etwas Frieden stiften. Der Autor bringt hier einige der wunden Punkte ans Lichter stellt dar, wie Litauer auch ohne Anstiftung der SS mit einer ungeheuren Brutalität einen antijüdischen Pogrom in Kaunas (den sog. Lietukis-Pogrom) durchführten, und dass es im Lande eigene Strukturen und Organisationen gab wie die Litauische Aktivistenfront (LAF), die mit der antisemitischen und antibolschewistischen NS-Politik sympathisierten. Wette zeigt, wie zäh und hartnäckig sich in Litauen das Erinnerungsmotiv von der LAF als Organisation der antisowjetischen Freiheitskämpfer hält und wie schwierig sich die Erinnerung an die jüdischen Opfer der deutschen Okkupation gestaltet. Der Grund hierfür ist die Opferkonkurrenznach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wollen sich Litauer vielmehr selbst als Opfer des sowjetischenGenozids“ darstellen. Deswegen gibt es am Haus des Sicherheitsdienstes in Kaunas, in dem Jäger seinen Bericht verfasste, bis heute keine Gedenktafel daran, sehr wohl aber eine, die an die Zeit der KGB-Nutzung erinnert.

Wolfram Wettes Buch ist ein sehr wichtiges. Es ist viel mehr als eine Darstellung eines deutschen Schreibtischtäters im besetzten Gebiet, einesHenkers am litauischen Judentum“, wie Arno Lustiger ihn später nannte. Die Studie betrachtet zudem die Erinnerungskultur einer Geschichtsregion, der in der deutschen Forschung bislang kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Klar, dass der Autor damit einige wunde Punkte anspricht wie die mangelnde Bereitschaft vieler Litauer, sich der historischen Verantwortung für die Vernichtung der jüdischen Mitbürger zu stellen. AlsDeckerinnerung“ gegen die unbequemen Fragen an sich selbst dient das Narrativ einer Opfergesellschaft während der sowjetischen Zeit. Das Buch ist an sich nicht nur reich an historischen Erkenntnissen zur Holocaust-Geschichte und -Erinnerung, sondern auch eingängig und ergreifendund somit für ein breites Lesepublikum verständlichgeschrieben.

Ekaterina Makhotina, München

Zitierweise: Ekaterina Makhotina, München über: Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano. Frankfurt a.M.: Fischer, 2011. 284 S., Abb. ISBN: 978-3-596-19064-5., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_Wette_Karl_Jaeger.html (Datum des Seitenbesuchs)

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