Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 287-291

Verfasst von: Ekaterina Makhotina

 

Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Hrsg. von Lars Karl und Igor J. Polianski. Göttingen: V&R unipress, 2009. 290 S., 23 Abb. = Formen der Erinnerung, 40. ISBN: 978-3-89971-691-7.

Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des „Großen Vaterländischen Krieges“. Hrsg. von Beate Fieseler und Jörg Ganzmüller. Essen: Klartext, 2010. 160 S. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 35. ISBN: 978-3-8375-0094-3.

Irina Scherbakowa: Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Göttingen: Wallstein, 2010. 152 S. = Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien, 7. ISBN: 978-3-8353-0601-1.

Vor etwas mehr als vierzig Jahren verkündete Leonid Brežnev auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU, das „Sowjetvolk“ sei als eine neue historische Gemeinschaft entstanden und habe nun die Bühne der Weltgeschichte betreten. Der „Sowjetmensch“, der ihm eigentümliche Lebensstil („obraz žizni – sovetskij!“) und seine Denklogik sollte als rundum gelungenes Projekt der Sowjetideologie und nicht zuletzt der Geschichtspolitik verstanden werden. Die Rede Brežnevs und seine Thesen lösten im Jahr 2011 einige hitzige Debatten in den russischen Medien auf: Wer war denn sovetskij čelovek? Sind die heutigen Russen, trotz der Tatsache, dass die Sowjet­union seit zwanzig Jahren nicht mehr existiert, vielleicht doch noch „sowjetisch“, - homines sovietici, - geblieben? Wirken die Denk- und Verhaltensmuster aus der Sowjetzeit womöglich nach und lässt sich damit der gesellschaftliche Umgang mit der Vergangenheit begreiflich machen? Genau diesen Fragen widmen sich die drei neuesten Erscheinungen zur Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Russland, die im Folgenden diskutiert werden.

Als Untersuchungsgegenstand rückt Russland immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der westlichen Erinnerungsforscher. Dass man durch den Blick aus der Vogelperspektive vereinfachend eine Dichotomie zwischen dem Alltagsgedächtnis in der russischen Gesellschaft und der aufoktroyierten Geschichtspolitik des Kremls konstatiert, ist dabei ein häufig festzustellendes Manko. Insofern ist es durchaus anerkennenswert, dass Lars Karl und Igor Polianski sich mit ihrem Sammelband „Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland“ das Ziel setzten zu zeigen, dass man diese strikte Trennung nicht aufrechterhalten kann. Die Publikation geht aus der 2006 abgehaltenen internationalen Konferenz „Das Rad der Geschichte eignet sich nicht für unsere Straßen!“ am Zentrum für Zeithistorische Forschungen hervor. Es ist eine rundum gelungene Zusammenfassung der Analysen zur Erinnerungskultur; die Beiträge wurden aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen zusammengetragen und sind zum Teil vergleichsperspektivisch angelegt. Im Band werden nicht nur die erinnerungskulturellen Diskursverläufe untersucht, sondern auch Medien der Geschichtskultur, durch welche das Narrativ an die Öffentlichkeit getragen wird – Denkmale, Schulbücher, Museen, Filme, Literatur und Festkultur.

Der einführende Beitrag von Jutta Scherrer liefert den Ansatzpunkt zur Annäherung an das mannigfaltige und zugleich schwer fassbare Thema Erinnerungskultur im post-sowjetischen Russland. Hier sieht die Verfasserin eine gedächtnistheoretische Herausforderung und fragt, ob es einem Historiker überhaupt möglich sei, mit den ihm zur Verfügung stehenden Methoden die Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in Russland nachzuvollziehen (S. 38). Scherrer legt nahe, dass die Suche nach der eigenen Identität in Russland ein schwierigerer Prozess sei als in anderen europäischen Ländern. Dies könnte den gegenwärtigen eklektischen Umgang mit der Geschichte zum Zweck der Entwicklung eines ‚bequemen‘ Narrativs, – „usable past“ nach David Brandenberger – erklären. Scherrer zufolge ist es unumgänglich, die Erinnerungskultur Russlands in eine gesamteuropäische Perspektive einzubeziehen, denn auch in anderen Staaten seien Geschichte, Gedächtnis und Politik eng miteinander verwoben (S. 29). Die ‚von oben‘ verordnete Geschichte wird im zweiten Kapitel des Sammelbandes näher betrachtet. Hier ist insbesondere der Beitrag der russischen Kulturhistorikerin Galina Zvereva hervorzuheben: Ihre Abhandlung zeichnet sich durch eine gründliche und prägnante Analyse der wichtigsten historischen Entwicklungslinien der postsowjetischen Staatsideologie anhand von Schulbüchern aus. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen Gedächtnismotive und Erinnerungslogiken, mit welchen der positive Weg zur Staatsnation konstruiert wird. Zum Zweck einer Konsolidierung vom Staat und Gesellschaft werde die russische (sowjetische) Geschichte nationalisiert und die konfessionelle, russisch-orthodoxe Komponente der Erinnerung hervorgehoben. Sowohl in der postsowjetischen Historiographie als auch in der schulischen Vermittlung der Geschichte sei die marxistische Formationstheorie durch die Zivilisationslehre ersetzt worden, welche sich wiederum auf Modelle der neuen russischen Historiosophie („Russländische Zivilisation“, S. 100) stützt.

Isabelle De Keghel versucht in ihrem Beitrag am Beispiel des 2005 eingeführten Staatsfeiertages am 4. November – dem Tag der Nationalen Einheit – die verschiedenen Grundzüge der heutigen russischen Erinnerungskultur, vor allem die Glorifizierung der Machtvertikale und die Stärkung der sozialen Kohäsion, deutlich zu machen. Wenn dies auch z. T. eine richtige Beobachtung ist, so darf man doch nicht außer Acht lassen, dass dieser in seiner Künstlichkeit augenfällige Gedenktag bei der russischen Gesellschaft bis heute als Fremdkörper angesehen wird und somit keine Erinnerungskraft aufweist. Die Absicht der russischen Geschichtspolitik, diesen Feiertag als impliziten antipolnischen Affront zu instrumentalisieren, wie es die Verfasserin zu verstehen gibt, müsste zudem kritisch hinterfragt werden.

Der Beitrag von Olga Kurilo erhebt den Anspruch, den Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit in seiner Gesamtheit zu analysieren. Problematisch erscheint dies dann, wenn sie versucht, mit den Maßstäben der deutschen „DIN-Norm“ der Vergangenheitsaufarbeitung (Timothy Garton Ash) zu messen. Des weiteren betont sie die Dichotomie zwischen „offizieller“ Erinnerung einerseits und „selbstreflexiven“ Erinnerungsformen einer „postheroischen“ Gesellschaft andererseits (S. 181). Ob der Begriff „post-heroische Gesellschaft“ von Herfried Münkler auf die Beschaffenheit der russischen Erinnerungskultur angewendet werden kann, ist aber zu bezweifeln. Diese Anwendung der Mastercopy des deutschen „Nie-Wieder“ (wobei bekanntermaßen auch der deutsche Weg der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ein langwieriger war) auf solch eine heterogene und mehrstimmige Gemengelage wie in  Russland ist äußerst kritisch zu sehen. Zudem bedürfen die stark zugespitzten Thesen wie z.B., dass die Moskauer Bürger nur wenig Wissen von den Gedächtnisorten an Opfer des Stalinismus und der Shoah hätten, eines belastbaren empirischen Belegs. Auch bei der kritischen Auseinandersetzung mit der durch „die Macht“ instrumentalisierten Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ (mal wird es im Beitrag in Anführungsstrichen gesetzt, mal nicht) geht die Verfasserin auf die gesellschaftlichen Stützen der pathetischen Ausgestaltung dieses Gedächtnisortes nicht ein. Diese Erinnerungslogik wird jedoch verständlicher, wenn man bedenkt, dass der Sieg über NS-Deutschland in der russischen Gesellschaft als das einzige Ereignis der nationalen Geschichte gesehen wird, welches mit Nationalstolz gefüllt werden und als eine positive Identitätsstütze für die ablebenden Zeitzeugen und deren Nachfahren dienen kann. So lässt sich auch die These von der Trennlinie zwischen dem kommunikativen Gedächtnis der Bevölkerung und dem geschichtspolitisch verordneter Heroismus (S. 145) nicht hinnehmen – die Studien von Amir Weiner „Making Sense of War“ und Orlando Figes „The Whisperers“ hatten einen hohen Grad an Korrelation zwischen den beiden Polen gerade in Bezug auf den Krieg festgestellt.

Auch Elke Fein geht in ihrem Beitrag zur Gesellschaft Memorial mehr auf die Defizite in der russischen vergangenheitsbezogenen Kommunikation als auf Erfolge ein. Bei dem Befund, dass Memorial als Akteur in der gegenwärtigen Erinnerungspolitik eine Randstellung einnimmt, wäre es jedoch auch hier sinnvoll, die Logiken des Gedächtnisses auf der gesellschaftlichen Ebene nicht außer Acht zu lassen. Dass die kompromisslose Position von Memorial zur De-Sowjetisierung der Gesellschaft von der letzteren kritisch aufgenommen wird, hat nicht zuletzt mit der sozialen und wirtschaftlichen Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung zu tun.

Ein bislang nur wenig erforschtes Terrain betritt Lars Karl in seinem Beitrag zur Wiedergeburt des russischen Kosakentums. Der Verfasser diskutiert zwei unterschiedliche Selbstkonzepte und somit erinnerungskulturelle Traditionslinien der Kosaken – die „unabhängige“ und die imperial-monarchistische. Das (Gedächtnis-)kollektiv der Kosaken würde ein Beispiel für ein rückwärts orientiertes Identitätsmodell im Neuen Russland darstellen.

Matthias Schwartz zeigt in seinem Beitrag zu post-imperialen Geschichtsbildern, wie und warum nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die fiktionale Form der Geschichtsschreibung ins Zentrum der diskursiven Selbstvergewisserung rückte. Durch die Analyse der pseudo- und parawissenschaftlichen Werke kann er deren Anziehungskraft aufzeigen, die sich in der Interpretation eines vergangenen, möglich gewesenen oder gescheiterten russischen Imperiums gründe. In diesen Diskursen werde die Verantwortung für die unglücklichen Seiten der Geschichte auf außerirdische, feindliche oder übernatürliche Kräfte zurückgeführt.

Der Zweite Weltkrieg, als der zentrale Erinnerungstopos des historischen Bewusstseins und als unabdingbarer Bestandteil der nationalkulturellen Identitätskonstruktion in Russland wird in Beiträgen von Joachim Hösler, Elena Stepanova und Jörg Ganzenmüller analysiert. Joachim Hösler beschäftigt sich in seinem Beitrag sowohl mit der Entwicklung der Geschichtsschreibung über den „Großen Vaterländischen Krieg“ als auch mit den Kontinuitäten und dem Wandel in der geschichtskulturellen Verankerung dieses bis heute wichtigsten Topos russischer Erinnerungskultur. Der Verfasser betont, dass zum einen die Sieges-Ikonografie fortgesetzt werde, doch es partizipieren immer mehr Akteure, Formen und Botschaften an der Verankerung der Kriegserinnerung im kulturellen Gedächtnis. Zum anderen lasse sich in der Populärkultur eher eine Gegenposition zum systemkonformen Triumph-Diskurs feststellen, die sich auf die Figur des durch das Volk erbrachten Opfers konzentriert. Die Pluralität der Meinungen und Sichtweisen auf den Krieg, durch den bunten Buchmarkt gegeben, reiche dabei bis zum Bild des Krieges zwischen den „beiden Diktatoren“ und gar bis zur These vom Präventivkrieg Hitlers. Durch die Beibehaltung des gewohnten Rahmens in der Auseinandersetzung mit dem Krieg als dem „Großen Vaterländischen Krieg“ bleibt der Zusammenhang zwischen dem deutschen Nationalsozialismus und dem Holocaust oft am Rande der Wahrnehmung.

Der „Große Vaterländische Krieg“ steht auch im Mittelpunkt des von Beate Fieseler und Jörg Ganzenmüller herausgegebenen Sammelbandes „Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des ‚Großen Vaterländischen Krieges‘“, wobei dessen mediale Vermittlung im Vordergrund steht. Aufgrund der immer stärker erkennbaren Wendung der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft zu visual memory im Zuge des sogenannten pictural turn (William Mitchell), bzw. iconic turn (Gottfried Boehm), kann die Publikation als ein zeitgemäßer und höchst relevanter Beitrag gelten. Die Herausgeber setzten sich zum Ziel, die Wahrnehmungen und Sinnstiftungen des Zweiten Weltkriegs herauszuarbeiten, mit deren Hilfe sich die Menschen in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten orientierten bzw. immer noch orientieren. In seinem Beitrag zu den „Vätern des Sieges“ diskutiert Jörg Ganzenmüller die Rivalität zwischen politischer und militärischer Führung um die Kriegsdeutung und Siegesleistung. Dabei zeigt sich, dass die Diskussion um den „Großen Vaterländischen Krieg“ kaum ohne die Auseinandersetzung mit der Person Stalins zu denken ist.

Etwas problematisch fällt der Beitrag von Carmen Scheide zur Figur der Frau im sowjetischen Kriegsgedächtnis aus. An den vorgetragenen Thesen und an der Argumentation ist durchaus Anstoß zu nehmen: Die Feststellung der Autorin zur Ausblendung der Frau aus dem „sowjetischen Kriegsgedächtnis“ (zunächst: Was ist eigentlich unter diesem Begriff zu verstehen? Ein ideologisches Produkt, ein geschlossener Kreis der Deutungen?) kann allein durch die Ausweitung der Perspektive auf Medien Film, Denkmal und öffentliche Rhetorik nicht standhalten. Es war geradezu die Spezifik des sowjetischen Heldenkanons, dass den Frauen als aktiven Kriegsteilnehmern eine wichtige Rolle zugesprochen wurde: Hinzuweisen wäre hier vor allem auf den Heldenkult um Partisaninnen wie Zoja Kosmodem’janskaja (Sowjetrussland), Mascha Bruskina (Belarus), Maryte Melnikaite (Litauen) usw. Zweifellos wurden sie als „Heldinnen der Sowjetunion“ konstruiert und die Schicksale dieser Frauen zu politischen Zwecken – u. a. zwecks Stärkung der These vom Volkscharakter des Krieges – instrumentalisiert, doch es ändert nichts an der Tatsache, dass auch eine kämpfende Frau ein Teil des kulturellen Kriegsgedächtnisses war. Eine zentrale Rolle spielte das Bild von den mutigen, selbstlos kämpfenden Frauen auch im Film „A zori zdes’ tichie“ von Sergej Rostockij aus dem Jahr 1972. Wenn die andere, „unschöne“ Erfahrung der Frau als Opfer des Krieges und der NS-Gewalt tatsächlich ein Tabuthema bleiben soll, lässt sich die These der Verfasserin von der „propagierten Geschlechterhierarchie“ und der Diskriminierung der Frau im heroischen Kriegsepos nicht unterstützen.

Bewegend und aufschlussreich liest sich Jürgen Zaruskys Beitrag zu Vasilijs Grossmans Werk „Leben und Schicksal“: Am Beispiel des Manuskriptes dokumentiert der Verfasser die Handlungslogik der sowjetischen Kulturpolitik, in der die ‚anderen‘ Sichtweisen auf den Krieg aus dem Bewusstsein verdrängt werden sollten.

Der Beitrag von Beate Fieseler macht die lange verborgene Seite der Kriegsgeschichte – das Schicksal der Kriegsinvaliden – sichtbar. Aus ihrer Analyse der sowjetischen Filme, in denen Kriegsversehrte vorkommen, werden die Gründe für die marginale Stellung der Invaliden im russischen Kriegsgedächtnis deutlich: Die sowjetische Kinoproduktion verzichtete auf die Darstellung der Verletzungen im Krieg, sodass es der Gesellschaft kaum möglich war, sich teilnahmsvoll, mitfühlend und intensiv mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.

Dass die Kriegserinnerung auf der Ebene der populären Geschichtsvermittlung keineswegs statisch ist, sondern sich dynamisch weiterentwickelt, wird im Beitrag von Peter Jahn angesprochen. In den Kriegsfilmen aus den Jahren 2000–2007 sieht er einen radikalen Perspektivenwechsel im Vergleich zu den sowjetischen Filmen, was vor allem die Darstellung des Feindes und die Geschlossenheit und Moral der sowjetischen Verteidiger betrifft. Aus der Analyse der Kriegsbilder, die durch das (Staats-)Fernsehen produziert und veröffentlicht werden, schließt Jahn auf eine Mehrstimmigkeit der Kriegserinnerung, die in westlichen Studien oft verkürzt und vereinfacht gesehen wird. Ein ähnliches Bild zeichnet Klaus Waschik in seinem analytischen Beitrag zur Entwicklung und zum Wandel des Kriegsbildes in der Plakatkunst. Er betont, dass es gegenwärtig neben jenen Bildern, die den Sieg in den Mittelpunkt stellen, auch solche gibt, die den Krieg einzig und allein als permanentes Verlusterlebnis durch aufrüttelnde Motive vorführen.

Mit der Erinnerung an den Krieg beginnt auch das dritte zur Besprechung stehende Buch „Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland“ von Irina Scherbakowa, einer in Deutschland wohl bekannten und rezipierten Historikerstimme aus Russland. In ihrem Buchessay stellt die Leiterin der Moskauer Filiale der Gesellschaft Memorial ihre Sicht auf den Umgang mit der Vergangenheit in Russland dar. Es ist eine facetten- und gedankenreiche Lektüre, in einer eingehenden und gleichzeitig engagierten Sprache verfasst, was das Buch für ein breites Lesepublikum zugänglich macht.

Zunächst macht die Verfasserin die Grundlinien der sich wandelnden Erinnerungspolitik in Bezug auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ („mit“ oder „ohne“ Stalin wurde „der Krieg gewonnen“, sieger- bzw. opferzentrierte Erinnerung, Re-Stalinisierung der Erinnerung usw.) sichtbar und verdeutlicht die Zäsuren in der Auseinandersetzung von der Nachkriegszeit bis heute. Die Tatsache, dass gegenwärtig wieder der Sieg im Zentrum des Kriegsgedächtnisses steht, ist ihrer Ansicht nach damit zu erklären, dass so die Traumata des Afghanistan- und Tschetschenienkriegs überdeckt werden konnen und dass nach dem Zerfall der Sowjetunion Russland von den ehemaligen Sowjetrepubliken nicht mehr als „Befreier“, sondern als „Besatzer“ betrachtet werde. Im zweiten Teil legt sie anhand eines Tagebuches eines „Mannes mit der Waffe diesseits des Stacheldrahtes“, eines ehemaligen Lagerbewachers, dar, wie ein anfangs mitfühlender Mensch zu einer verbitterten Apathie kommt, indem er sich selbst nur als ein „Rädchen in der Maschinerie“ versteht. Es ist ein rührendes Zeugnis, wie der Mensch im Stalinismus durch die permanente Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit und der Ungerechtigkeit des Systems psychisch kaputtgeht. Im dritten Kapitel Ihres Buchessays, in einem biographischen Interview, legt Scherbakowa ihre eigene Begründung für die „Kultur des Vergessens“ in Russland offen: Die post-sowjetische Gesellschaft sei über die wirtschaftliche und soziale Reformen der Jelzin-Ära enttäuscht gewesen, und die demokratischen Werte hätten keine Anziehungskraft mehr aufgewiesen. Die russische Gesellschaft sei zerrissen, und genauso sei auch der Umgang mit ihrer Geschichte, – dies ist der Leitgedanke des Essays, welcher auch auf dem Rückcover des Buches zitiert wird. Ob dies, wie Scherbakowa betont, darin gründet, dass die Identität und Verhaltensmuster des russischen Bürgers von heute immer noch die eines homo sovieticus sind, ist eine kühne Annahme, die gewiss noch weiterhin Historiker und Erinnerungsforscher anregen wird.

Ekaterina Makhotina, München

Zitierweise: Ekaterina Makhotina über: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Hrsg. von Lars Karl und Igor J. Polianski. Göttingen: V&R unipress, 2009. = Formen der Erinnerung, 40. ISBN: 978-3-89971-691-7; Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des „Großen Vaterländischen Krieges“. Hrsg. von Beate Fieseler und Jörg Ganzmüller. Essen: Klartext, 2010. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 35. ISBN: 978-3-8375-0094-3; Irina Scherbakowa Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland. Göttingen: Wallstein, 2010. = Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien, 7. ISBN: 978-3-8353-0601-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_SR_Erinnerungskultur_in_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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