Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 139-142

Verfasst von: Ekaterina Makhotina

 

Heiko Haumann (Hrsg.): Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse –  Analysen – Methoden. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2010. 303 S. = Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien, 17. ISBN: 978-3-631-59427-8.

Heiko Haumann / Jörn Happel / Carmen Scheide (Hrsg.): Das Jahrhundert des Gedächtnisses. Erinnern und Vergessen in der russischen und sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert. [Sankt-Peterburg]: Olearius Press, 2010. 247 S., Tab.  ISBN: 978-5-901603-19-2.

Während diese Rezension geschrieben wird, läuft in den europäischen Medien eine lebhafte Debatte um die russische Übersetzung des Buches von Orlando FigesThe Whisperers. Private Life in Stalins Russia. Der Grund dafür ist der Einspruch vonMemorial“ gegen die Veröffentlichung dieser Studie in Russland: Der britische Historiker wird für seine nachlässige, unsorgfältige und schlicht unkorrekte Nutzung der Selbstzeugnisse und Erinnerungen der Opfer des Stalinismus und ihrer Angehörigen kritisiert. Der Eklat um das tausend Seiten umfassende Buch zeigt die hohe Sensibilität des Themas und wie heikel die Frage des Umgangs mit der Erinnerung der Opfer der stalinistischen Gewalt ist. Umso wichtiger erscheint die Entwicklung eines wissenschaftlich hieb- und stichfesten methodischen Ansatzes für diese besondere Art von Quellen: Erinnerungsschriften, biografische Interviews und Zeitzeugenaussagen.

Diesem Anliegen widmet sich das erste der hier anzuzeigenden PublikationenSelbstzeugnisse der Gewaltherrschaft, herausgegeben vom Baseler Osteuropahistoriker Heiko Haumann. Der Sammelband ist das Ergebnis zahlreicher Lehrveranstaltungen und Einzelprojekte imProjekt Erinnerungskultur, das 2003 am Baseler Lehrstuhl angelaufen ist. Im einführenden Beitrag (S. 5176) diskutiert Haumann das Instrumentarium, mit welchem die Selbstzeugnisse zu sammeln, auszuwerten und zu analysieren sind; die elf Beiträge illustrieren die Möglichkeit der praktischen Anwendung des Methodenapparats an einer Vielfalt von Quellenfiktionaler Literatur, Fotografie und Fotoalben, mündlicher Überlieferung, Autobiografien und Erinnerungsschriften.

Spätestens seit Jochen Hellbecks Publikation des Tagebuchs von Stepan Podlubnyj sind Selbstzeugnisse aus der Zeit des Stalinismus als eine unschätzbare historische Quelle ins Zentrum der Stalinismusforschung gerückt. Die Beobachtung, dass der Mensch, der selbst dem Terror ausgesetzt war, den Glauben an das Ziel des Neuen Menschen trotzdem nicht aufgab (S. 53), so erstaunlich und irritierend zugleich wie sie war, inspirierte Forscher zu weiteren Studien zu Themen des Alltagsgedächtnisses, von Selbstbildern und Lebenswelten. Haumann greift die bis dahin diskutierten Erklärungsversuche auf – „gespaltene Identität, Leben in Parallelwelten, Verinnerlichung der staatsloyalen Identitätsdiskurse, Anpassung und Apathie und unterzieht sie einer kritischen Binnendifferenzierung. Nach der Klärung der Begrifflichkeit (S. 5657) zeigt der Verfasser den Mehrwert dieser Art von Quellen bei der Aufklärung von Gewaltgeschichte (S. 60) auf. Demnach würden sie Willkürlichkeit der staatlichen Maßnahmen, Selbstverständnis der Betroffenen, Situationen der Zusammenarbeit mit dem System aufgrund egoistischer Bestrebungen Einzelner aufzeigen. Eine methodische Herausforderung für Erinnerungsforscher bleibt allemal die Frage nach Möglichkeit und Grenzen der Rekonstruktion der Leid-Erfahrung. Haumann bietet hierfür eine methodische Annäherung mit folgendem Fragenkatalog: Erschließung des Kontextes durch Vergleich mit anderen Quellen; Aufschlüsselung der Sinnkonstruktion durch Aufdeckung der Schlüsselmotive in Texten; Herausarbeitung der gemeinsamen Erinnerungsbestandteile und schließlich deren Absetzung von individuellen Verhaltens- und Verarbeitungsmustern. Durch die Anwendung dieser Methode bei den mündlichen Überlieferungen kommt nochSequenzanalysehinzu tritt der Historiker in eine kommunikative Beziehung mit dem Menschen in den Quellen ein. Diese außerordentlich hilfreiche Systematisierung ist dem Verfasser hoch anzurechnen, noch mehr dadurch, dass er jeden der Punkte mit einer umfangreichen Bibliografie belegt. Dadurch öffnet sich dem Leser ein ganzes Panorama der weiterführenden Literatur und ein guter Überblick der Forschungstendenzen.

Der Blickvon innenauf die Gewaltherrschaftenden Nationalsozialismus und den Stalinismusschlüsseln die Beiträge von Esther Stebler (zu den niedergeschriebenen Erinnerung eines Opfers Primo Levi und eines Täters: Rudolf Höß) und Aglaia Wes­pe (zu den Memoiren von Efrosinja Kersnovskaja, einer Gulag-Überlebenden) auf. Beide Autorinnen wenden in ihrer Auswertung den methodischen Ansatz von Gabriele Rosenthal an, bei welchem die soziale Konstruiertheit der biografischen Narrativen im Mittelpunkt steht. Der Beitrag von Wespe zeigt die Überlebensstrategie einer Frau in der Gulaghaft auf, die darin bestand, sich als Mann zu kleiden und zu verhalten. Am Beispiel von Erinnerinnungsschriften und Zeichnungen (der Beitrag ist erfreulicherweise farblich illustriert) von Kersnovskajas zeigt die Autorin zudem den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis aufnachdem Kersnovskaja ihre Erinnerungen in den 1960er Jahren niedergeschrieben und verbreitet hatte, wurde dieerlebte Geschichtezum Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses von nicht-staatlichen Kollektiven. Im Mittelpunkt des Beitrags von Esther Stebler steht der Blick von Levi und Höß auf sich selbst, das System und die anderenOpfern und Tätern. Das Gemeinsame dieser scheinbar so unterschiedlichen TexteHöß schrieb seine Erinnerungen im Gefängnis, Levi viele Jahre später nach Kriegsendebesteht darin, dass es sich hier umSelbstbefreiungs“-Texte handelt der eine schreibt um sein Leben, der andere, um das Trauma loszuwerden. Wie unterschiedlich die Texte auch ausfallen, es lassen sich in beiden doch Verbindungen zur Lebensgeschichte der Autoren rekonstruieren sowie der diskursive Rahmen, der das Gesagte und Ausgelassene regelt. Eine solche Nebeneinanderstellung von Opfer- und Tätertexten ist somit in Bezug auf die ex-post-Konstruktion des eigenen Ichs erleuchtend und gewinnbringend.

Eine neue Perspektive auf das Medium Fotografie und Fotoalbum entwickelt Maja Naef in ihrem Beitrag. Der Verfasserin gelingt es, am Beispiel der Aufnahmen von Wehrmachtssoldaten und der daraus entstandenen Fotoalben aufzuzeigen, wie durch Bildmotive, ihre thematisch-hierarchische Anordnung im Fotoalbum und Unterschriften der Krieg und der Militäreinsatz positiviert und heroisiert werden kann.

Der Aufsatz von Daniel Lis diskutiert ein Phänomen einer mehrschichtigen Identifikation und eines selbstdiskursiven Wandels: Am Beispiel des Lebensweges seines Großvaters, eines begeisterten Kommunisten jüdischer Herkunft, der aufgrund der antisemitischen Kampagne und der antijüdischen Stimmungen Polen verlassen und nach Israel auswandern musste, analysiert er die Überschneidung der jüdischen, kommunistischen und polnischen Identifikationen und den sozial und politisch bedingten Neuentwurf von Identitäten. Der Beitrag macht zudem deutlich, dass die jüdischen Überlebenden in den 1950er Jahren das Trauma der Shoah aus ihren Selbstdiskursen ausgelassen hatten; bis heute wird bei vielen der Holocaust aus der erzählten Geschichte ausgeschlossen.

Kurzum, der Sammelband wird dem am Anfang deklarierten Zielder thematischen und methodischen Annäherung an die Frage nach dem Verhältnis von kollektiver und individueller Erinnerung gerecht und bietet ein gutes Instrumentarium zur quellenkritischen Beschäftigung mit Erinnerungsvorgängen.

Auch im zweiten zur Besprechung vorliegenden SammelbandDas Jahrhundert des Gedächtnissessteht der Mensch und seine Erinnerung im Mittelpunkt der Reflexion. Es ist ein weiteres Ergebnis der Arbeit der Baseler Historiker, nun im wissenschaftlichen Austausch mit russischen Historikern der Čeljabinsker Universität. Den Herausgebern Haumann, Happel und Scheide ist es hoch anzurechnen, dass sie die Beiträge russischer Historiker zu Fragen der Erinnerungsforschung dem deutschen Lesepublikum zugänglich gemacht hatten.

Der Sammelband ist in vier Kapiteln unterteilt, von welchen jedes eine bestimmte Perspektive wählt: Das erste widmet sich der theoretischen Diskussion; das zweite fragt nach dem methodischen Ansatz im Umgang mit sozialer Erinnerung; das dritte führt Ergebnisse von Fallstudien auf, und das vierte diskutiert die Wechselwirkung kommunikativer Erinnerung mit dem offiziellen, staatlich geforderten Diskurs.

Nicht umsonst trägt der Sammelband den UntertitelErinnern und Vergessen in der russischen und sowjetischen Geschichte: DieKultur des Vergessens(Paul Ricouer) soll als ein gleichermaßen wichtiger Bestandteil der Analyse des sozialen Gedächtnisses in Russland angesehen werden, und es ist erfreulicherweise der Gegenstand von Fallstudien im vorliegenden Sammelband.

Der Frage nach den Assoziationen zur sowjetischen Geschichte im kollektiven Gedächtnis von Russen unterschiedlicher Generationen widmet sich der Beitrag von Oksa­na Nagornaja. Anhand mündlicher und schriftlicher Interviews konnte die Verfasserin zeigen, dass die kollektive Vergangenheitskommunikation eher von Vergessen dominiert wird; dasErinnerteerscheint dabei als Produkt der von den Machthabern entwickelten Techniken der Identitätsbildung. Das Geschichtswissen der jüngeren Generation ist stark von Medien und Schule geprägt, somit instabil und zum Teil näher an einer positiv-nostalgischen Sicht auf die Geschichte der älteren Generation als an jener der eigenen Eltern: Die mittlere Generation ist durch die Vergangenheitskritik der Glasnost-Periode sensibilisiert; ihre Einschätzung ist somit am meisten durch Ambivalenz geprägt. Unter allen Schlüsselereignissen der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gab es den größten Dissens in Bezug auf die Oktoberrevolution (großbei den Älteren,Brudermordbei der mittleren); und einen absoluten Konsens zumGroßen Vaterländischen Krieg19411945, der einhellig von alt und jung als dashoffnungsvollste Ereignis des 20. Jahrhunderts(S. 85) benannt wird. Der Kampf zwischen Roten und Weißen um die politisch richtige Erinnerung an den Bürgerkrieg im Gebiet Ural ist der Gegenstand des Beitrags von Igor Narskij. Der Verfasser macht deutlich, wie die Verankerung der bolschewistischen Vergangenheitsvision in einer ländlich und bäuerlich geprägten Gesellschaft vor allem durch das Medium der Festkultur und Feiertage funktionierte. Allerdings war dieser Prozess nicht nur eine staatliche Veranstaltung; auchvon unten‘ gab es den Wunsch, durch die Mythisierungen im eigenen Leben, dessen Alltag vom Leiden und Not geprägt war, einen Sinn zu finden.

Das enge Miteinander des gefilterten und fragmentierten biografischen Gedächtnisses und der staatlichen Erinnerung wird nicht zuletzt als ein Erklärungskonzept für die Lebenstüchtigkeit der Sowjetgesellschaft gesehen. Olga Nikonova untersucht in ihrem Beitrag eine der identitätsstiftenden diskursiven Praktiken von Individuen in stalinistischer Zeitdensowjetischen Patriotismus. Der patriotische Diskurs hatte sich in den späten 1920er Jahren konsolidiert und bestand in der heroischen Auffassung der drei Tempiheroische Vergangenheit (Revolution), heroische Gegenwart (Industrialisierung, Kollektivierung), heroische Zukunft (Sozialismus). Dersowjetische Patriotismussollte in der neuen Gesellschaft der Neuen Menschen eine Kohäsionskraft entfalten. Grundlegend war dabei der Diskurs vom bevorstehenden Krieg: Anhand der ausgewerteten Jubiläumsbroschuren zum Ersten Weltkrieg zeigt Nikonova auf, wie dadurch das Andenken an den nächsten imperialistischen Krieg aktualisiert und die Idee des sozialistischen Vaterlandes propagiert werden konnte. Die Autorin kann die funktionale Nähe des Sowjetpatriotismus zum nationalistischen Diskurs in Europa aufzeigen, wobei der erstere nicht die ehtno-nationalen, sondern klassenbezogene Abgrenzungsmerkmale verankerte.

Beide Bände sind redaktionell sehr gut bearbeitet und führen im Fußnotenapparat eine umfassende Liste der Sekundärliteratur auf. Durch den gemeinsamen konzeptuellen Rahmen in der Einführung von Haumann ergänzen sich die beiden Sammelbände auf eine hervorragende Weise. Die Tatsache, dass durch dasJahrhundert des Gedächtnissesdie Ergebnisse der Erinnerungsforschung in Russland auch dem deutschen Lesepublikum zugänglich gemacht worden sind, zeichnet die Arbeit der Baseler Forscher zweifellos aus.

Ekaterina Makhotina, München

Zitierweise: Ekaterina Makhotina über: Heiko Haumann (Hrsg.): Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse – Analysen – Methoden. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2010. 303 S. = Menschen und Strukturen. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien, 17. ISBN: 978-3-631-59427-8 ; Heiko Haumann / Jörn Happel / Carmen Scheide (Hrsg.): Das Jahrhundert des Gedächtnisses. Erinnern und Vergessen in der russischen und sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert. [Sankt-Peterburg]: Olearius Press, 2010. 247 S., Tab. ISBN: 978-5-901603-19-2., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_SR_Erinnerungskultur_Sowjetunion_RF.html (Datum des Seitenbesuchs)

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