Ol’ga Ju. Solodjankina Inostrannye guvernantki v Rossii (vtoraja polovina XVIII – pervaja polovina XIX vekov) [Ausländische Gouvernanten in Russland (zweite Hälfte 18. – erste Hälfte 19. Jahrhundert)]. Izdat. Academia Moskva 2007. S. 511. = Monografičeskie issledovanija. Istorija Rossii. ISBN: 978-5-87444-263-7.

Eine aus Westeuropa stammende Gouvernante gehörte zum Alltag der russischen Oberschicht wie der Samowar und die Datscha. Wie jedoch kam das fremdländische Erziehungspersonal überhaupt ins Zarenreich, wie verlief der Kulturkontakt und wie wirkte er sich auf die russischen Zöglinge aus? Diesen Fragen geht die Moskauer Historikerin Ol’ga Solodjankina in ihrer Monographie über ausländische Kindermädchen und vor allem Gouvernanten nach. Als Quellen dienen ihr dabei einerseits Dokumente aus den staatlichen Archiven von St. Petersburg und Moskau sowie die Memoiren und Tagebücher russischer Adliger. Diese enthalten zahlreiche Erinnerungen an die ausländischen Erzieherinnen und bezeugen überaus enge Beziehungen.

Gouvernanten wurden zur zentralen Bezugsperson, weil sie sehr lange und intensiv mit ihren Schützlingen zusammen lebten. Sie übernahmen spätestens im sechsten Lebensjahr die Erziehung, vermittelten Grundwissen und führten in ihre Muttersprache ein. Häufig schliefen sie im gleichen Zimmer wie „ihre“ Kinder und beaufsichtigten diese selbst in der Freizeit. Während Knaben später durch einen (ausländischen) Hauslehrer unterrichtet wurden, blieben Mädchen bis zur Heirat in der Obhut der Gouvernante. Die vielen Facetten des Kulturkontaktes bilden ein reiches Material, das Solodjankina in drei langen Kapiteln präsentiert.

Nach einem einführenden Überblick schildert die Autorin die rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen einer erzieherischen Tätigkeit im Zarenreich. Danach stellt sie die Gouvernanten als Pädagoginnen vor: Sie nennt die Anforderungen, die an diese gestellt wurden, schildert die Unterrichtsformen und -inhalte bis hin zu Freizeitgestaltung, Strafen und Belohnungen. Schließlich untersucht Solodjankina die Stereotypen, welche die Wahrnehmung der Ausländerinnen im Zarenreich prägten, sowie die Folgen des wechselseitigen Kulturaustausches. Insgesamt rekonstruiert das Buch den Weg, über den die Erzieherinnen nach Russland gelangten und der hier ihr weiteres Leben bestimmte.

Die ersten westeuropäischen Gouvernanten wirkten am Hof Peters des Grossen und bei ausländischen Familien. Sie galten als Symbol des modernisierenden westeuropäischen Erziehungsmodells, das sich, ausgehend von der Elite, rasch im gesamten Adel und dem gehobenen Bürgertum verbreitete. Während Gouvernanten ihren Zöglingen im 18. Jahrhundert vor allem gute Manieren, Tanzkenntnisse und elegantes Parlieren vermitteln sollten, stiegen im 19. Jahrhundert die Ansprüche an die Bildung. Nun wurde ein umfassendes Wissen gefordert, womit auch das Spektrum unterrichteter Sprachen wuchs: Dominierte bis zu den Napoleonischen Kriegen Französisch, so kamen danach Deutsch und unter Umständen Englisch als weitere „Pflichtsprachen“ hinzu. Das tatsächliche Niveau, mit dem sich die Zöglinge diese aneigneten, variierte allerdings. Während Zar Nikolais I. Tochter Ol’ga angeblich bereits mit fünf Jahren in drei Sprachen lesen und schreiben konnte, lernten selbst begeisterte Anglomanen nie wirklich Englisch.

Gouvernanten leisteten Erziehungs- wie Bildungsarbeit, bezeugten aber auch den Wohlstand ihrer Gastfamilien und deren Zugehörigkeit zur Ober- bzw. höheren Mittelschicht. Damit war der Kreis von Familien, die Gouvernanten einstellten, so groß, dass die Nachfrage stets hoch blieb und noch im 19. Jahrhundert das Angebot überstieg. Dieses Ungleichgewicht führte dazu, dass auch Frauen aus der Unterschicht eingestellt wurden, die sich einzig durch ihren Status als Muttersprachlerinnen qualifizierten.

Die dürftige Bildung vieler ausländischer Pädagogen blieb Kritikern und den Zaren nicht verborgen. Bereits Zarin Elisabeth I. schrieb eine Prüfung für alle ausländischen Lehrer vor. Während man sich nach 1789 vor allem vor einer Kontaminierung mit revolutionärem politischen Gedankengut fürchtete, kehrte unter Zar Alexander I. die Sorge um die fachliche Qualifikation zurück. Von nun an wurde die Prüfungsprozedur immer genauer umschrieben; zudem veröffentlichte die zuständige Behörde Listen mit den Hauslehrern, welche die Prüfung bestanden hatten. Diese Kontrolle wurde allerdings nie auf die Gouvernanten ausgedehnt. Sie traten ihre verantwortungsvolle Tätigkeit vielfach weiterhin mit nur bruchstückhaftem Wissen und wenig Erfahrung an.

Anfänglich fanden russische Familien vor allem dank Bekannter mit Kontakten ins Ausland oder dank im Russländischen Reich lebender Ausländer eine Gouvernante. Eine Hofdame Katharinas II. zitiert in ihren Erinnerungen, wie selbst die Zarin aus dieser Absicht und recht unverblümt dem General-Gouverneur von Riga schrieb: „Lieber Braun, sie schicken mir die besten Apfelsinen, könnten sie nicht auch die beste Gouvernante zur Erziehung meiner Enkelinnen schicken?“ Ab den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts wurden die informellen Netzwerke durch spezialisierte Vermittlungsbüros und Agenten ergänzt. Gerade diese mochten die Westeuropäerinnen im Glauben bestärkt haben, im Zarenreich eine angesehene Stellung und ein entsprechendes Gehalt zu erhalten. Tatsächlich genossen Gouvernanten einen höheren Status als Hausangestellte und aßen mit den Hausherren am gleichen Tisch. Dieses Privileg besaß allerdings seinen Preis und war nicht unbedingt mit sozialem Aufstieg gleichzusetzen.

Des Russischen unkundig, praktisch pausenlos mit Erziehungspflichten beschäftigt und ohne gesicherte Rechte, lebten die Gouvernanten sozial stark isoliert. In jeder Beziehung von den Gastgebern abhängig, bestimmte das Verhältnis zu diesen die Qualität ihres Aufenthaltes. Manche Familien nahmen die Erzieherin wie eine Tochter auf, andere beuteten sie als billiges Mädchen für alles aus. Dazu riskierte sie sexuelle Belästigung oder gar Missbrauch. Immerhin durften sich Gouvernanten verheiraten und nutzten dieses Recht auch, wobei sich viele für einen ausländischen Hauslehrer entschieden – kein Wunder, einten sie doch hier Beruf wie Herkunft.

Angesichts der völlig fremden Umwelt erstaunt es nicht, dass viele Gouvernanten beim Eintreffen in Russland einen heftigen Kulturschock erlitten. Die Diskrepanz zwischen hohen Erwartungen und der harten Realität steigerten dessen Heftigkeit und führte bei manchen Gouvernanten dazu, dass sie die neue Umgebung ausschließlich durch die Brille negativer Stereotypen wahrnahmen. Die Russen wirkten als Barbaren, ihr Essen schien ungenießbar, das Klima unerträglich. Geplagt von Einsamkeit und Heimweh fanden die Erzieherinnen in erster Linie bei Landsleuten Trost. Von diesen erhielten sie auch im Fall einer plötzlichen oder altersbedingten Entlassung am ehesten Hilfe oder das Geld zur Rückreise.

Während der Aufenthalt im Russländischen Reich die Gouvernanten um gute oder schlechte Erfahrungen bereicherte, wurden die russischen Zöglinge durch die fremde Erziehung grundlegend geformt. Die Gouvernanten besaßen Einfluss auf deren Äußeres wie Kleidung und Auftreten, aber auch auf deren Denken und Sprechen und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Verwestlichung der russischen Oberschicht.

Solodjankinas Geschichte des Gouvernantenwesens erweitert den bisherigen Wissensstand zu den russisch-westeuropäischen Beziehungen um wichtige Aspekte. Schade ist, dass sie für ihre Arbeit die (publizierten) Selbstzeugnisse von Gouvernanten kaum berücksichtigt und somit deren Sicht der Dinge weitgehend ausklammert. Wünschenswert wäre auch ein Personenregister gewesen, hätte doch dieses den Zugriff auf die zahlreichen, überaus aussagekräftigen Quellenzitate wesentlich erleichtert. Dafür fasst eine Liste die Informationen zu den einzelnen erwähnten Gouvernanten, Zöglingen und Arbeitgebern zusammen und hilft somit bei der Suche nach weiteren Stücken im komplexen Beziehungspuzzle zwischen Westeuropa und dem Zarenreich.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: Ol’ga Ju. Solodjankina: Inostrannye guvernantki v Rossii (vtoraja polovina XVIII – pervaja polovina XIX vekov) [Ausländische Gouvernanten in Russland (zweite Hälfte 18. – erste Hälfte 19. Jahrhundert)]. Izdat. Academia Moskva 2007. = Monografičeskie issledovanija. Istorija Rossii. ISBN: 978-5-87444-263-7., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 2, S. 275-277: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maeder_Solodjankina_Inostrannye_Guvernantki.html (Datum des Seitenbesuchs)