Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 323-325

Verfasst von: Eva Maeder

 

Lorina P. Repina (otv. red.): V teni velikich. Obrazy i sudby. Sbornik naučnych statej. S.-Peterburg: Aleteija, 2010. 399 S. = Čelovek vtorogo plana v istorii. ISBN: 978-5-91419-354-3.

Im Schatten der Großen: Beispiele und Schicksaleunter diesem Titel veröffentlicht die russländische Gesellschaft für Geistesgeschichte unter der Leitung von Lorina Repina die Resultate eines fünfjährigen Projektes über Menschen, die in ihrem Lebennur‘ zweitrangig waren, aber von dieser Position aus Entscheidendes bewirkt haben. Mit Absicht wurden nicht die Biographien derGroßen rekonstruiert, sondern es geht um diejenigen, die bisher noch nicht im Scheinwerferlicht der Geschichte standen. Der Sammelband enthält 27 Aufsätze über die Hintermänner undStrippenzieher‘ aus ganz verschiedenen Epochen. Vorgestellt werden hauptsächlich Russen, Engländer und Deutsche, aber auch Mark Agrippa sowie der Apostel Bartholomäus. Zeitlich reicht der Band von der Antike bis in die Gegenwart. Alle Texte wurden acht Themenbereichen zugeordnet, welche die verschiedenen Facetten des personengeschichtlichen Ansatzes aufzeigen.

Der erste Block Theoretische Aspekte der personalen Geschichte erklärt die Grundgedanken, welche die Autoren beim Schreiben ihrer Beiträge und die Herausgeberin bei der redaktionellen Betreuung geleitet haben. Ausgewählt hat sie Lebensgeschichten, welche drei Kriterien erfüllen: Erstens durften die Protagonisten nicht zur Masse derdrittrangigen‘,unbedeutenden‘ Menschen gehören, sondern mussten die Geschichte spürbar beeinflusst haben. Zweitens sollten sie ein Ego-Dokument hinterlassen haben und schließlich wurde vom Autor die Analyse der dargelegten Fakten verlangt. Die ersten beiden Kriterien sind miteinander verbunden, ermöglichen doch gerade Informationen aus erster Hand eine so detaillierte Beschreibung einer Person, dass diese außergewöhnlich wirkt. Die Abgrenzung nach unten erscheint allerdings etwas elitär. Wie kann man wirklich beurteilen, ob ein Mensch etwas Entscheidendes geleistet hat?

Produktiver erscheint demgegenüber der Versuch, verschiedene Typen von zweitrangigen Menschen zu unterscheiden. Der zweite Block: Warum nicht der Erste zeigt, wieso drei Persönlichkeiten mit guten Voraussetzungen dennoch nicht zu Anführern wurden. Mark Agrippa brillierte in fast allen Gebieten, blieb aber dennoch ein treuer Helfer von Kaiser Augustus und versuchte nicht, diesen vom Thron zu verdrängen. Rostislav, der älteste Sohn von Jurij Dolgorukij, wechselte mehrmals das politische Lager, konnte sich dennoch nicht von seinem Vater emanzipieren. Das Beispiel des Apostel Bartholomäus schließlich zeigt, wie stark die Klassierungzweitrangig‘ abhängig von der Überlieferungslage ist: Während die Bibel kaum Informationen über diesen Jünger Christi enthält, wirkte er in den Vorstellungen der zum Christentum bekehrten Völker so stark nach, dass über ihn besonders viele apokryphe Erzählungen entstanden.

Der dritte Bereich: Graue Kardinäle bzw. Eminenzen handelt von Thomas Cromwell, dem ersten Minister des englischen Königs Heinrich VIII. und Organisator der Klosterauflösungen sowie von Michail Katkov, der als Herausgeber der Moskovskie Vedomosti die Politik von Alexander III. maßgeblich beeinflusste. Repina erwähnt, dass die Rubrikbezeichnung Graue Kardinäle bereits in früheren Publikationen des Projektes verwendet wurde. Möglicherweise wurde sie dort auch näher erläutert, im vorliegenden Buch bleibt jedoch unklar, wodurch sich dieser Themenbereich vom folgenden: Politik: zwischen Bühne und Kulissen unterscheidet.

Darin geht es um Sir Jeromy Bowes, den Gesandten von Königin Elizabeth I. am Hof von Ivan IV., um den Publizisten und späteren Staatsrat Michail Borodkin, der bei Alexander III. erfolgreich für die Einschränkung der finnischen Autonomie lobbiierte und um Konstantin Hierl, der als Staatssekretär der NDAP den Reichsarbeitsdienst aufgebaut hat. Sie alle spielten imTheater‘ der Politik bloß eine untergeordnete Rolle, besaßen aber dennoch einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf des gespieltenStücks‘. Etwas für sich steht ein Beitrag über die beschönigte Darstellung des Fürsten Golicyn in Tatiščevs Russländischer Geschichte.

Im fünften Block Biografische Rekonstruktionen nutzten die Autoren alle vorhandenen Quellen, um möglichst viel über drei bisher wenig bekannte Persönlichkeiten zu erfahren: Asandros, den letzten König des bosporanischen Reiches (gest. 16 v. Chr.), Filip Popovič, einen Patrizier aus Pskov, der als Reaktion auf die Eingliederung seiner Heimatstadt 1510 als Mönch in ein Kloster eintrat, und Henry Tilson, der in Irland als Vertreter des englischen Königs wirkte und 1641 bei einem Aufstand der Iren fast sein ganzes Vermögen verlor. Die Autorin dieses Beitrages wählt mit dem Satz:Henry Tilson lernte ich vor acht Jahren kennen“, einen ungewöhnlichen Einstieg, zeigt damit aber auch, welch persönliche, beinahe intime Beziehung zwischen Protagonist und Biograf entstehen kann.

Die Beziehung zwischen Mann und Frau wird im sechsten Teil Frauenschicksal in dermännlichen“ Geschichte anhand zweier Beispiele näher analysiert. Bei der Adligen Sofija Svečina wirkte der Jesuit Joseph de Maistre als starker Pol, dem es gelang, die Russisch-Orthodoxe Adlige von derWahrheit‘ des Katholizismus zu überzeugen und schließlich zur Konversion zu bewegen. Umgekehrt verdankt John Stuart Mill laut eigenen Aussagen alle seine wichtigen Ideen seiner Frau Harriet Taylor Mill. Diesen Umstand taten jedoch die meisten bisherigen Biografen als falsche Bescheidenheit ab; einige sahen darin aber auch ein Beispiel für den Verdienst, der Frauen an der geistigen Produktion ihrer Ehemänner eigentlich zusteht.

Der siebte Teil Kollektive Helden weicht vom üblichen Verständnis von Biografie als der Lebensgeschichte einer einzelnen Person ab und thematisiert drei Gruppen von Menschen, die durch ihr Handeln im Kollektiv zu Akteuren der Geschichte wurden. Dazu gehörten einerseits die Bürger von Florenz zu Beginn des 15. Jahrhunderts, die sich umso mehr mit ihrer Stadt zu identifizieren schienen, je stärker sie politischen Einfluss verloren. Andererseits geht es um Informanten aus den schottischen Highlands, welche der englischen Regierung Hinweise auf (angebliche) jakobitische Verschwörungen zuspielten. Schließlich sind da die russischen Polittechnologen der 1990er Jahre, die als skrupellose Pragmatiker die Politiker der neuen Ära berieten und damit die Vertrauenskrise in die russische Politik mitschufen.

Im achten Block Historiker der zweiten Ebene handelt es sich nur bei Rudolf Kötschke und Sergej Utechin tatsächlich um Historiker. Ersterer leistete einen wesentlichen Beitrag zur Siedlungs- und Landesgeschichte des deutschen Ostens, ohne aber dabei das nationalsozialistische Konzept des Lebensraums in Frage zu stellen. Letzterer gelangte als Ostarbeiter in den Westen, blieb hier und wurde Professor in England und den USA. Als Geschichtsphilosoph verteidigte er überzeugt die Ideen des westlichen Rationalismus gegen die Angriffe der Postmoderne. Der Russe N. Jančevskij verstand sich als Schriftsteller und nutzte die Symbolik des «silbernen Zeitalters» um nach 1917 Bilder für die Revolutionsideen zu schaffenwas ihn aber 1937 nicht vor der Erschießung bewahrte.

Der Historiker des Don-Gebietes Aleksandr Rigelmann wurde dem letzten Block Helden von lokaler Bedeutung zugeordnet, weil er sich als Festungsbauingenieur während der türkischen Kriege in 1730er bis 1780er Jahren militärische Meriten erwarb. Aleksandr Popov scheint sich seine Bezeichnung als Held durch seine unermüdliche Tätigkeit als Historiker und Geograf des Dongebietes verdient zu haben. Der Anführer der 11. Reiterarmee im russischen Bürgerkrieg, Dmitrij Šloba, trug offiziell den Titel eines Helden und wurde von seinen Soldaten aufrichtig verehrt. Als er wegen einer Auseinandersetzung strafversetzt wurde, meuterten seine Soldaten treu. Nach dem Krieg leitete er verschiedene Kollektivierungsprojekte, wurde aber trotz seiner Treue zur Partei im Terrorjahr 1937 erschossen.

Das Konzept des Mittelmannes eröffnet einen neuen Zugang zu bereits erforschten und noch unbekannten Persönlichkeiten. Gleichzeitig stellt die Zuordnung zu acht verschiedenen Arten der Zweitrangigkeit hohe Anforderungen an den Leser. Stets werden neuen Themen und Epochen vorgestellt, was die Lektüre wohl kurzweilig macht, aber auch dazu führt, dass das historische Umfeld der vorgestellten Personen nur ansatzweise erschlossen wird.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: Lorina P. Repina (otv. red.): V teni velikich. Obrazy i sud’by. Sbornik naučnych statej. S.-Peterburg: Aleteija, 2010. 399 S. = Čelovek vtorogo plana v istorii. ISBN: 978-5-91419-354-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maeder_Repina_V_teni_velikich.html (Datum des Seitenbesuchs)

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