Margaret Paxson Solovyovo: The Story of Memory in a Russian Village. Indiana University Press Bloomington, IN; Woodrow Wilson Center Press Washington, D.C. 2005. 389 S., Abb.

„Dorfgeschichten vermischen moderne und alte Themen und handeln beiläufig von grundsätzlichen Problemen der Gruppenzugehörigkeit, der Macht und des Widerspruchs.“ Mit diesen Worten charakterisiert M. Paxson ihren Untersuchungsgegenstand wie ihr Vorgehen. In ihrer Monographie über das im Vologda-Gebiet gelegene Dorf Solovyovo (so sein fiktiver Name) verwebt sie detaillierte Beschreibung sowie ethnographische Theorien und Analysen zu einem dichten Bericht über die prägende Kraft der Vergangenheit im Leben von Dorfbewohnern. Dabei spricht sie von religiösen Vorstellungen und Praktiken, Magie, Ritualen, vom Alltagsleben, den dörflichen Arbeiten, vom Aufbau einer lokalen wie nationalen Gemeinschaft, von Politik, Macht und Identität.

Die Autorin verbindet diese vielfältigen Themen durch die Metapher vom Gedächtnis als Landschaft. Diese setzt sich aus verschiedenen Schichten zusammen, von denen die vorchristliche zuunterst, die postsowjetische zuoberst liegt. Marksteine (symbolische Figuren) verschaffen darin Orientierung. Daneben gibt es konzentrische Kreise (Familie, Dorfgemeinschaft, Nation), Kraftfelder und vertraute Pfade (eingeschliffenes Denken und Handeln). Raum und Zeit verhalten sich flexibel. Sie können sich, wie im Märchen, bis zur Unendlichkeit ausdehnen und dann wieder aufs Kleinste schrumpfen.

Paxson begab sich eineinhalb Jahre lang in diesen Zeit-Raum der Dorfbewohner. Die dabei gesammelten Beobachtungen dienen als Quellen für das in zwei einleitende und sechs thematische Kapitel gegliederte Buch. In den thematischen Kapiteln behandelt die Ethnographin die Mechanismen der Gruppenbildung und betritt dann die Welt der „hellen Vergangenheit“, deren zeitliche Grenzen in etwa die Regierungsjahre Stalins bilden. Darin lokalisieren die Dorfbewohner Freiheit, Glück und Ordnung und meinen damit das Fehlen von Neid und Eifersucht, intensive Gemeinschaftserlebnisse und Disziplin.

Dieser idealisierten Sichtweise liegen Versatzstücke aus der kommunistischen Propaganda von der „hellen Zukunft“ zugrunde, stärker aber noch scheint sie von den negativen Erlebnissen der Jelzin-Zeit geprägt. Sogar Erinnerungen an die unter Stalin erlittenen Verfolgungen und die damals erlebte Not finden darin ihren Platz. Diese schufen Furcht und damit, so die rechtfertigende Vorstellung der Zeitgenossen, die Voraussetzung für soziale Ordnung. Stalin rückt damit in die Nähe von Christus und der vorchristlichen Götter. Alle bildeten mächtige Hausherrn (chozjain), die als Rächer wie Wohltäter auftreten konnten.

Die „Welt der Wunder“ – so das fünfte Kapitel – funktioniert noch stärker nach den Gesetzen der Magie. Die Grenze zwischen ihr und der Realität ist dabei überaus durchlässig. Ein unbedacht ausgesprochenes Wort oder ein falsch durchgeführtes Ritual genügen, um die Schwelle zu überschreiten. Dann liefert man sich höheren Mächten aus, die in verschiedenen Gestalten auftreten. Besonders prominent und aus der Folklore gut bekannt sind der domovoj, der Hausgeist, und der lešij, der Herr des Waldes. Doch auch rätselhafte Vorgänge in der Wirtschaft und Politik schreiben die Dorfbewohner solchen Mächten zu. Erzählen sie beispielsweise von den Verhaftungen der dreißiger Jahre, so benutzen sie dazu die gleichen narrativen Mittel wie bei anderen Spukgeschichten.

Im Bereich der Gesundheit und des Heilens verschmelzen die Dorfbewohner ebenfalls magisches und modernes Denken. Bei schweren Krankheiten suchen sie in der Regel den Arzt auf und wenden sich erst bei dessen Versagen an den Dorfheiler. Dieser wiederum, ein gebildeter Mann, erklärt manche Krankheiten psychosomatisch und bittet in anderen Fällen höhere Mächte bzw. die Geister der Vorfahren um Hilfe.

Die letzten beiden Kapitel behandeln mehrfache Schichten von Raum und Zeit. Die Ikonenecke des Hauses bildet den Ort des Gebets; hier hält sich aber auch der Hausgeist häufig auf und es treten die Bewohner mit ihren Vorfahren in Kontakt. Den dörflichen Kalender strukturieren archaische agrarische Praktiken, kirchliche und staatliche Feiertage. Falls zwischen den verschiedenen symbolischen Ebenen ein Konflikt entsteht, dann entscheiden die Dorfbewohner pragmatisch und richten sich vor allem nach ihren Bedürfnissen. Dabei besitzt – so Paxsons wichtigster Befund – die Stärkung der eigenen Gruppe eine besonders hohe Priorität.

Mit dieser Reise durch Vergangenheit und Gegenwart vermag es Paxson, den abstrakten Begriff des „sozialen Gedächtnisses“ mit konkreten Inhalten zu füllen. Dank einer ausgesprochenen Sorgfalt und Beharrlichkeit gelangt sie dabei zu zahlreichen neuen Einsichten, erlangt ihr Text stellenweise poetische Qualität. Gewisse theoretische oder allgemeinhistorische Abschnitte sind zu lang geraten und behindern die Passage in eine faszinierende Welt, die so stark durch die Vergangenheit geprägt ist und sich dennoch ständig verändert.

Eva Maeder, Zürich

Zitierweise: Eva Maeder über: Margaret Paxson: Solovyovo: The Story of Memory in a Russian Village. Indiana University Press Bloomington, IN; Woodrow Wilson Center Press Washington, D.C. 2005. ISBN: 0-253-34654-1, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maeder_Paxson_Solovyovo.html (Datum des Seitenbesuchs)