Wendy Z. Goldman Women at the Gates – Gender and Industry in Stalin’s Russia. Cambridge University Press Cambridge 2002. XVII, 294 S., Abb.

„Frauen erbrachten, dank ihrer strategischen Positionierung in der Arbeiterfamilie, einen gewaltigen Beitrag zur Kapitalakkumulation und zur Investition in die Industrialisierung.“ Mit diesen Worten fasst Wendy Goldman die bedeutende Leistung des „schwachen Geschlechts“ beim Aufbau der sowjetischen Industrie zusammen. Dennoch blieb gerade dieses Kapitel der Industrialisierungsgeschichte bis zur Publikation von Goldmans Studie unterbeleuchtet. In dieser präsentiert die Autorin beachtliche Zahlen: Zwischen 1929 und 1935 begannen vier Millionen sowjetische Frauen für Lohn zu arbeiten, wobei 1,7 Millionen Frauen in der Industrie tätig wurden. Der Frauenanteil in diesem Sektor erhöhte sich dabei von einem knappen Drittel (1928) auf stolze 42 Prozent (1935).

Während des ersten Fünfjahresplans eröffneten sich für Frauen bisher unbekannte (Erwerbs‑)Möglichkeiten; gleichzeitig entstanden aber auch in allen Betrieben und Berufen schlecht bezahlte Stellen, die ausschließlich mit Frauen besetzt wurden. Goldman erklärt diese paradoxe Entwicklung mit dem Bild der „Tore“, die anfänglich bewacht, später eingerissen und schließlich neu errichtet wurden. Der Begriff steht dabei sowohl für die Fabriktore wie für den Zugang zur Arbeiterklasse. In den Jahren der NĖP wirkten die Gewerkschaften und die Arbeitsbörsen als „Torwächter“. Wer in dieser Zeit massiver Arbeitslosigkeit Arbeit oder Arbeitslosengelder erhalten wollte, musste bei einer Arbeitsbörse registriert sein, wofür wieder­um Gewerkschaftszugehörigkeit die Voraussetzung bildete. Damit schuf die Kommunistische Partei einen Ausschlussmechanismus, der Frauen wie Bauern von der Industriearbeit fernhielt und so verhindern sollte, dass sich die Arbeiterklasse – die soziale Basis der Partei – mit „frem­den Elementen“  vermischte. Nach 1928 gerieten diese „Tore“ ins Wanken: Für den rasant vor­wärts getriebenen Bau von Fabriken wurden Millionen von Arbeitskräften benötigt, gleichzeitig strömten durch die Kollektivierung entwurzelte Dorfbewohner scharenweise in die Städte. Dennoch hielt die Partei an ihrem Konzept fest, neu geschaffene Stellen ausschließlich mit männlichen Facharbeitern zu besetzen. Fabrikdirektoren unterliefen indes diese Vorgabe und heuerten auch unqualifizierte Arbeitssuchende direkt an den Fabriktoren an. Erst 1930, angesichts eines drohenden Arbeitskräftemangels, beugte sich die Partei und erweiterte das Recht auf Industriearbeit auf weitere Bevölkerungskreise. An erster Stelle kamen dabei die Ehefrauen und erwachsenen Töchter von Arbeitern zum Zug, da sie – so die Annahme – keinen Anspruch auf Wohnraum stellten und dadurch die ohnehin massive Wohnungsnot nicht noch zusätzlich verschärften. Hausfrauen wiederum suchten dringend nach Arbeit, da angesichts des durch die Versorgungskrisen ausgelösten Preisanstiegs ein Gehalt nicht mehr zur Versorgung der Familie reichte. Die Partei schuf in erster Linie neue Möglichkeiten für Frauen, um den Ansprüchen der Industrie zu genügen. Die Umsetzung der von der sowjetischen Verfassung wie von der Propaganda versprochenen Gleichberechtigung besaß demgegenüber eine geringe Priorität. „Leichtere“, deshalb schlechter bezahlte und oft weniger qualifizierte Arbeit sollte von Frauen ausgeübt werden, um so Männer für die Produktion freizustellen. Mit dem Übergang zum zweiten Fünfjahresplan 1932 erließ die Partei drakonische Arbeitsgesetze und führte Inlandpässe ein. Damit errichtete sie neue Tore, welche den Zugang zur Arbeiterklasse erneut beschränkten.

Goldmans Verdienst ist es, die stürmische so­w­jetische Industrialisierung mit der eingängigen Tor-Metapher einprägsam zusammenzufassen und die komplexe Entwicklung dabei im Einzelnen durchaus differenziert zu beschreiben. Was fehlt, sind Einzelschicksale von Frauen, die verdeutlichen, wie diese die mühevolle Passage erlebten und bewältigten.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: Wendy Z. Goldman Women at the Gates – Gender and Industry in Stalin’s Russia. Cambridge University Press Cambridge 2002. ISBN: 0-521-78064-0, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maeder_Goldman_Women_at_the_Gates.html (Datum des Seitenbesuchs)