Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 495-497

Verfasst von: Eva Maeder

 

E. Thomas Ewing: Separate Schools. Gender, Policy, and Practice in Postwar Soviet Education. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. XII, 300 S., 16 Abb. ISBN: 978-0-87580-434-7.

1943, mitten im Krieg, wurde in der Sowjetunion nach einer äußerst kurzen Vorbereitungszeit eine große Anzahl reiner Mädchen- bzw. Knabenschulen geschaffen. In Moskau und Leningrad waren davon fast alle Schüler betroffen, durchschnittlich wurden in den Städten 40 bis 60 Prozent der Schüler erfasst, in den Dörfern hingegen blieb die Koedukation bestehen.

1954, nach einer mehrjährigen Debatte, bei der zahlreiche Bürger diese Form von Geschlechtertrennung kritisiert hatten, beschloss die sowjetische Führung die Rückkehr zur Koedukation. E. Thomas Ewing erklärt in seiner Monographie, was zu den beiden radikalen Kehrtwenden in der Bildungspolitik geführt hat, wie die Maßnahmen umgesetzt wurden und wie die Betroffenen darauf reagierten.

Chronologisch gegliedert, beginnt sein Buch mit den Gründen und Umständen der Abkehr von der Koedukation. Bereits vor Kriegsbeginn, im Mai 1941, ordnete das Bildungsministerium die Schaffung vonGymnasienan, geschlechtergetrennten Schulen, wie sie im vorrevolutionären Russland bestanden hatten. Begründet wurde sie mit der Aussage, dass in der Sowjetunion die Geschlechtergleichheit verwirklicht sei und man daher den spezifischen Bedürfnissen von Jungen und Mädchen Rechnung tragen könne. Hinter dieser widersprüchlichen Auffassung stand das Gefühl, dass sich mit gemischten Klassen Probleme wie Disziplinmangel nicht in den Griff bekommen ließen und deshalb ein neuer Ansatz gefragt sei. Der Kriegsbeginn im Juni 1941 schuf für die Umstellung einerseits äußerst ungünstige Voraussetzungen, galt es doch Schulen wie Schüler zu evakuieren, Gesellschaft und Armee zu mobilisieren und die gewaltigen menschlichen und materiellen Verluste zu bewältigen. Andererseits gewann nun aber die Meinung, dass Mädchen und Jungen auf besondere Rollen als Mütter bzw. Soldaten vorbereitet werden müssten, weitere Anhänger. Der Vergleich zeigt, dass das Bedürfnis nach geschlechtergetrennten Schulen auch in anderen Ländern und politischen Systemen in Krisensituationen wuchs.

Laut Ewing führten eher die Umstände des Weltkriegs und weniger die konservative Wende der Stalinjahre zur Abkehr von der Koedukation. Er argumentiert, dass am Ideal der Geschlechtergleichheit immer festgehalten wurde und die geschlechtergetrennten Schulen daran gemessen wurden. Der Widerspruch zwischen Ideal und Praxis hat die Umsetzung der Maßnahme dann wesentlich geprägt. Zum einen machte die Geschlechtertrennung nur Sinn, wenn unterschiedliche Inhalte unterrichtet wurden. Zum andern aber bildete die Vermittlung gleicher Lehrplaninhalte das oberste Ziel. Danach richteten sich auch die Lehrkräfte, weshalb es grundsätzlich nur in Randbereichen zu Abweichungen kam. In der Biologie wurde entweder mehr vom Männer- oder vom Frauenkörper gesprochen, in der Geschichte über heroische Frauengestalten referiert oder der Verlauf von Schlachten analysiert. Mädchen lernten die Kunst der Hauswirtschaft, Knaben hatten militärisches Training. Einzelnen Lehrpersonen und Schulbehörden genügten diese Anpassungen nicht. Sie forderten, dass Mädchen mehr geistes-, Knaben mehr naturwissenschaftliche Inhalte zu vermitteln seien. Damit erreichten sie jedoch eher das Gegenteil, wurden doch nun umgekehrt Befürchtungen laut, dass in geschlechtergetrennten Schulen Mädchen schlechter ausgebildet und die akademischen Standards aufgeweicht würden.

Wie stark sich der Kenntnisstand von Mädchen und Knaben am Ende ihrer Schulzeit tatsächlich unterschied, wurde nie in repräsentativem Umfang gemessen. Stattdessen war die Wahrnehmung der Geschlechtertrennung geprägt von persönlichen Erfahrungen, Spekulationen und Projektionen. Mädchenschulen galten als ruhig, warm und sauber, die Knabenschulen dagegen als lärmig, chaotisch und als Herd von Zerstörung und Gewalt. Umgekehrt hielt man den Knaben genuines Interesse, Vorstellungskraft und analytisches Vermögen zu gute, während man bei den Mädchen versteckte Gemeinheiten und dem Hang zum reinen Auswendiglernen beobachtete. Schulbehörden berichteten von unkontrollierbaren Knabenklassen. Lehrer, die sich hier behaupteten, galten als gute Pädagogen. Mädchenschulen hingegen wurden mit Sanatorien verglichen.

Die Disziplinprobleme an den Knabenschulen wurden mit zu geringer Betreuung, gemessen an den pädagogischen Bedürfnissen, in Zusammenhang gebracht: die Klassen zählten bis zu 40, die Schulen bis zu 1600 Schüler. Die Behörden reagierten mit der Umverteilung bewährter Lehrer an die Knabenschulen und dem Bau von Turnhallen als Ventil für die überschüssige Energie. Angesichts der angespannten Ressourcenlage führten diese Maßnahmen aber dazu, dass sich die Mädchenschulen benachteiligt fühlten und den Widerspruch zwischen dem Ideal der Gleichheit und der Realität der Schlechterstellung beklagten. 1950 stellte ein Psychologe in der Literaturnaja Gazeta sein Unbehagen öffentlich und ausführlich dar. Seine Kritik sprach zahlreichen Lesern und Leserinnen aus dem Herzen. Sie antworteten mit teilweise veröffentlichten Briefen und sprachen sich mehrheitlich gegen die Geschlechtertrennung an den Schulen aus. Es folgten Schul- und Elternversammlungen mit weiteren Plädoyers für die Rückkehr zur Koedukation. Wohl kritisierten die Pädagogen, Eltern und Schülerinnen nur eine spezifische staatliche Maßnahme. Dennoch ist erstaunlich, wie viele Menschen sich nach Jahrzehnten der Repression und inmitten einer neuen Verfolgungswelle getrauten, ihren Unmut direkt zu äußern.

1954 beschloss die sowjetische Regierung, zur Koedukation zurück zu kehren. Was genau zur Entscheidung geführt hat, lässt sich nicht eruieren. Das Beispiel zeigt aber, dass auch Diktatoren die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht einfach so ignorieren können. Vom elfjährigen Versuch, durch Geschlechtertrennung bessere Voraussetzungen für die Schulbildung zu schaffen, waren Millionen von Schülern betroffen. Gleichzeitig bestand aber während der ganzen Phase in der Mehrheit der sowjetischen Schulen die Koedukation fort. Langfristige Auswirkungen auf das Schulsystem oder die Gesellschaft sind nicht ersichtlich. Die Bedeutung des Unternehmens sieht Ewing daher vor allem in den gesammelten Erfahrungen. Diese lohnt es sich überall da zu studieren, wo heute die Einführung geschlechtergetrennter Schulen erwogen wird.

Ewings große Leistung besteht darin, dass er ein umfangreiches und spannendes Quellenmaterial aus neun zentralen Archiven und sieben Bibliotheken aufgearbeitet hat. Darunter sind auch die Staatsarchive von Kasachstan und Usbekistan. Diese galten als rückständige Regionen, wo die Emanzipation der Frauen ein besonderes Ziel wie auch eine besondere Rechtfertigung der sowjetischen Politik bildete. Durch die Vielzahl von Quellen entsteht ein sehr dichtes Bild und Ewing kann seine Thesen gut belegen. Schade nur, dass er keine Interviews mit Betroffenen geführt hat. Durch sie könnte man besser erfahren, was den damaligen Schülerinnen und Schülern wirklich am Herzen lag. Insbesondere die Sexualität bildete ein Tabuthema, das von den schriftlichen Quellen als Schreckgespenst nur gestreift, in ihrer Bedeutung für den Schüleralltag kaum erfasst wird. Davon abgesehen sei dieses Buch allen empfohlen, die sich für Bildungspolitik, Geschlechterfragen sowie sowjetische Geschichte während und nach dem Weltkrieg interessieren.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: E. Thomas Ewing: Separate Schools. Gender, Policy, and Practice in Postwar Soviet Education. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. XII, 300 S., 16 Abb. ISBN: 978-0-87580-434-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Maeder_Ewing_Separate_Schools.html (Datum des Seitenbesuchs)

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