Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Otto Luchterhandt

 

Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen und Jochen Oltmer. 2., unveränderte Auflage. Paderborn [usw.]: Schöningh; München: Fink, 2008. 1156 S., Abb. ISBN: 978-3-506-75632-9.

Das hier anzuzeigende Buch ist die Frucht einer deutsch-niederländischen Kooperation, nämlich zwischen dem von Klaus Bade geleiteten „Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien“ (IMIS) der Universität Osnabrück und dem Niederländischen „Institute for Advanced Study“ (NIAS) in Verbindung mit dem Wissenschaftskolleg zu Berlin. Hauptpartner auf niederländischer Seite ist der Mitherausgeber Pieter Emmer, Professor für „Geschichte der europäischen Expansion und der damit verbundenen Migrationen“ an der Universität Leiden. Die 1. Auflage des Werkes erschien 2007. Die Tatsache, dass bereits 2008 eine 2. (unveränderte) Auflage folgte, spricht für sich: die Herausgeber kamen einem verbreiteten, starken Bedürfnis entgegen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.

Die Idee, den Gegenstand „Migration in Europa“ in Form einer Enzyklopädie zu behandeln, kann man nur als eine glückliche bezeichnen, denn der enzyklopädische Zugriff ist der ungeheuren Vielfalt und Komplexität des Gegenstandes in geographischer, wirtschaftlicher, sozialer, religiöser, kultureller und politischer Hinsicht in ganz besonderer Weise angemessen. Hinter dem Begriff und Phänomen der Migration breiten sich zahlreiche soziale Welten aus Geschichte und Gegenwart aus.

Die Vorarbeiten zu der Enzyklopädie reichen bis 1996 zurück. Die eigentliche Arbeit begann aber erst 2000/2001 am Berliner Wissenschaftskolleg. Die Idee zu einer Enzyklopädie war Klaus Bade im Zuge seiner Arbeit an einer Geschichte der Migration in Europa gekommen. Ihm wurde klar, dass man eine solche eigentlich erst schreiben könne, wenn dazu ein breiter Sockel aus Vorarbeiten – Einzelstudien zu den zahllosen Facetten des Gegenstandes – vorliege (Vorwort, S. 15–16). Damals konnte davon noch nicht die Rede sein. Bade hat gleichwohl seine Geschichte der Migration veröffentlicht (Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Beck, 2000/2002). Man muss ihm für diese Entscheidung dankbar sein, denn dieses Werk ist wegen seiner intensiven Auseinandersetzung mit konzeptionellen Problemen und theoretischen Ansätzen der Erforschung von Migration für jeden, der sich mit einem Ausschnitt oder allgemeiner mit ihr beschäftigt, seien es Wissenschaftler, Praktiker oder persönlich Betroffene, also Migranten selbst, eine Quelle vertiefter Erkenntnis und besseren Verstehens. Durch die später erschienene Enzyklopädie ist die Migrationsgeschichte Bades daher keineswegs überholt, schon deswegen nicht, weil beide Werke ganz verschiedenen Gattungen angehören.

Die Enzyklopädie der Migration in Europa ist ein imponierendes Werk. Fast 200 Autoren aus vielen Ländern haben an ihr mitgewirkt, gesteuert und koordiniert von den vier Herausgebern (und Mitautoren) und einem über 30 Personen zählenden Wissenschaftlichen Beirat sowie Länderkoordinatoren. Kurz – es ist ein Mammutunternehmen, dessen verhältnismäßig schnelle Bewältigung auch dem widerstrebendsten Kritiker Bewunderung abnötigen muss.

Das Werk ist in drei Blöcke gegliedert. Zunächst erläutern die Herausgeber „Idee“, „Konzept“ und „Realisierung“ der Enzyklopädie, sodann werden in der internationalen Migrationsforschung verwendete „Terminologien“ und „Konzepte“ erläutert (S. 19–53). Der zweite Block behandelt die Migration mit dem Fokus auf den „Ländern“ Europas, geordnet nach den geographischen Subregionen des Kontinents, dessen östliche Hemisphäre der traditionellen wissenschaftlichen Einteilung in Ostmitteleuropa (Baltische Länder, Polen, Tschechien und Slowakei), Osteuropa (Russland, Weißrussland, Ukraine) und Südosteuropa folgt (S. 54–358). Im dritten Block schließlich werden, alphabetisch geordnet, ethno-sozial definierte „Gruppen“ von Migranten dargestellt, insgesamt 110, etwa von „Albanischen Siedlern in Italien seit der frühen Neuzeit“ bis zu „Zyprioten in Großbritannien seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges“. Dies ist naturgemäß der Hauptteil der Enzyklopädie (S. 359–1127).

In theoretischer Hinsicht vertreten die Herausgeber folgende Positionen:

1. Migration wird „als ein umfassender Kultur- und Sozialprozess in und zwischen geographischen und sozialen Räumen“ verstanden. Der Prozess umfasst das Phänomen des Ortswechsels und seine Hintergründe, die Bewegungen zwischen Heimat- und Zielräumen sowie die Problematik der Integration und eventuellen Assimilation bei dauerhafter, Generationen übergreifender Migration (S. 21).

2. Migration wird weit verstanden. Sie schließt Gruppenbewegungen über die Staatsgrenzen hinweg und „Binnenmigration“, freiwillige und erzwungene, saisonale ebenso wie lebenszeitliche, materiell, d.h. wirtschaftlich, beruflich usw. ebenso wie ideell aus Gründen von Religion, Weltanschauung oder Politik motivierte Wanderungen ein. Der Begriff erfasst auch Bewegungen zwischen ländlichen und städtischen Räumen oder zwischen unterschiedlichen klimatischen Zonen eines Landes, zum Beispiel Nord-Süd-Wanderungen (S. 36ff.).

3. In historischer und politischer Hinsicht werden verschiedene Migrationsregime unterschieden, teils liberale, teils Migration stimulierende, teils restringierende Regime, generalisierende Charakterisierungen, die mit der Herausbildung von geschlossenen Nationalstaaten und von Wohlfahrtsstaaten mannigfachen Differenzierungen weichen. Die Freizügigkeit des Binnenmarktes in der Europäischen Union, durch „Schengen“ noch verstärkt, schafft in jüngster Zeit völlig neue Struktur- und Rahmenbedingungen für Migration in Europa (S. 40ff.).

4. Migration kann sich infolge intensiver Kommunikation zwischen bestimmten Herkunfts- und Zielregionen zu „Wanderungssystemen“ verfestigen, insbesondere dann, wenn zwischen ihnen ein starkes sozio-ökonomisches Gefälle besteht (S. 45–46).

5. Die Prozesse der Akkulturierung, sozialen Eingliederung und Assimilation von Migranten verlaufen sehr unterschiedlich. Sie hängen stark von dem jeweiligen sozialen Milieu ab (z.B. Großstadt oder ländlicher Raum), verändern sich im Laufe geschichtlicher Abschnitte und werden heute, anders noch als im vornationalen Zeitalter, stark von ethno-kulturellen Faktoren, von Profil und Selbstverständnis der Migranten selbst bestimmt (S. 46ff.).

Ausführliche Verzeichnisse der „Wanderungsformen“ (S. 1134–1135) und der „Länder“, „Regionen“ und „Orte“ der Migration ergänzen den theoretischen Teil der Enzyklopädie in nützlicher Weise (S. 1135–1155).

Für die mit dem östlichen Teil Europas in Geschichte und Gegenwart befassten Fachleute aller Richtungen ist die Enzyklopädie eine reiche Fundgrube. Das gilt zuvörderst für die Länderüberblicke der osteuropäischen Teilregionen, die von bekannten Autoren bearbeitet wurden: Estland, Lettland und Litauen von Michael Gar­leff, Polen von Doruta Praszałowicz, Tschechien und Slowakei von Her­mann Zeitlhofer (S. 243 –287). Im Falle Südosteuropas hat man – aus guten Gründen – auf eine Länderaufgliederung verzichtet. Die Region wird von Holm Sund­haus­sen integriert dargestellt (S. 288–313). Bei Osteuropa hat Richard Hellie (Chicago) Russland und Weißrussland (S. 314–332) und Frank Golczewski die Ukraine bearbeitet (S. 333–358). Der für diese Länder reservierte Platz ist, wie man sieht, stark unausgewogen; neben der Ukraine tritt Russland allzu sehr zurück. Nicht unproblematisch ist die vorgenommene Länderaufgliederung überhaupt, wenn man bedenkt, dass die von den drei Ländern bezeichneten Räume bis 1991 die längste Zeitspanne der Untersuchungsperiode Teile eines Staatswesens waren und von einem politischen Zentrum aus beherrscht wurden. Es hätte sich daher auch in diesem Falle, zumindest für die Epochen bis 1991, eine integrierte Behandlung wie bei Südosteuropa angeboten. Warum der vorliegende Ansatz gewählt wurde, wird von den Herausgebern nicht mitgeteilt.

Inhaltlich ist der Artikel über Russland und Weißrussland sehr unbefriedigend. Neben der Darstellung der Ukraine fällt er stark ab. Wesentliche Migrationsprozesse werden gar nicht erwähnt oder nur gestreift. Das gilt namentlich für die Russlanddeutschen. Nahezu unbrauchbar sind die Abschnitte über Sibirien, Mittelasien und Transkaukasien (S. 324ff.). Dass der slawische Bevölkerungsanteil in den östlichen und zentralen Regionen des Nordkaukasus seit 1959 kontinuierlich zurückgegangen ist und weiter zurückgeht, weiß der Autor anscheinend nicht. Diese heute besonders intensiv von Migrationsprozessen beeinflusste Region Russlands kommt nicht in den Blick, und warum Hellie eine Statistiktabelle der Volkszählung von 1970 (!) bringt, um damit unter anderem die interethnischen Kräfteverhältnisse in Tatarstan für 1991 (!!) zu belegen (S. 321–322), ist unverständlich. Russland und Weißrussland hätten eine Darstellung von der Qualität der Ukraine und Südosteuropas verdient! Zum Glück wird die Mangelhaftigkeit des Länderüberblicks zu Russland durch die auf Russland bezogenen Artikel über bestimmte ethnische Migrationsgruppen, d.h. hinsichtlich der Deutschen (vgl. S. 458ff.; 465ff; 473ff.; 494ff.; 505f.; 514ff; 1081ff.), der Juden (S. 725ff.) und der Griechen (S. 608ff.), wenigstens teilweise ausgeglichen.

Weitere Artikel über spezielle Migranten-Gruppen im osteuropäischen Raum betreffen Albaner, Armenier, Bosnier, Bulgaren, Gagauzen, Kroaten, Polen, Serben, Slowenen, Tschechen und Ungarn. Auffällige Lücken klaffen bei Rumänen und Zigeunern.

An der Enzyklopädie haben nicht wenige deutsche Osteuropahistoriker mitgearbeitet. Neben den bereits genannten Länderautoren sind dies insbesondere Detlef Bran­des, Dietmar Dahlmann, Klaus Gestwa, Heiko Haumann, Karl Schlö­gel und Ralph Tuchtenhagen. Manche herausragende Migrationsspezialisten osteuropäischer Regionen vermisst man unter den Autoren, namentlich Alfred Eis­feld, Dietmar Schorkowitz und Victor Dönninghaus.

Keine Enzyklopädie ist vollkommen. Das liegt in der Natur der Sache, denn dafür ist der Gegenstand zu vielfältig und in aller Regel zu lückenhaft erforscht. Das kann in diesem Falle nicht anders sein. Den Herausgebern war und ist das natürlich bewusst. Sie mussten sich deswegen bescheiden und beschränkten sich darauf, „gruppenbezogene Wanderungen exemplarisch und ohne Anspruch auf ‚Vollständigkeit‘ auf dem neusten Forschungsstand zu dokumentieren und den auf der Zeitachse unterschiedlich rasch und mit unterschiedlichen Ergebnissen fortschreitenden Prozess von Integration/Assimilation im Rahmen des Möglichen gruppenspezifisch oder doch an verfügbaren Beispielen beschreibbar zu machen“. (S. 23) Das ist insgesamt zweifellos gelungen. Den Herausgebern, voran Bade und Emmer, ist mit der Enzyklopädie ein großer Wurf gelungen. Sie legt einen soliden Grund für aktuelle Arbeiten und weitere Forschungen und regt gleichzeitig zu ihnen an.

Otto Luchterhandt, Hamburg

Zitierweise: Otto Luchterhandt über: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Klaus J. Bade, Pieter C. Emmer, Leo Lucassen und Jochen Oltmer. 2., unveränderte Auflage. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.]; Wilhelm Fink Verlag München 2008. ISBN: 978-3-506-75632-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Luchterhandt_Enzyklopaedie_Migration_in_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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