Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 672-674

Verfasst von: Ruth Leiserowitz

 

Sandra Studer: Erinnerungen an das jüdische Vilne. Literarische Bilder von Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 398 S., 17 Abb. = Lebenswelten osteuropäischer Juden, 15. ISBN: 978-3-412-21118-9.

Facetten einer Stadt, die litauisch Vilnius heißt, polnisch Wilno, deutsch Wilna, jiddisch Vilne und russisch Vilna, stehen im Mittelpunkt der hier zu besprechenden Arbeit. In zeitlicher Hinsicht geht es um die Spanne zwischen den beiden Weltkriegen. Räumlich bezieht sich die Untersuchung auf das jüdische Viertel der Wilnaer Altstadt, in dem damals vor allem die „mittellosen jüdischen Massen“ (S. 15) lebten. Sandra Studer hat sich in ihrer Dissertationsschrift zum Ziel gesetzt, das Leben der einfachen Menschen von der jüdischen Straße zu erforschen, und analysiert hierzu die Werke der vor Ort geborenen Schriftsteller Chaim Grade (1910–1982) und Abraham Karpinovitsh (1913–2004). Die Verfasserin versteht die Gesamtheit der literarischen Produktion beider Autoren als Erinnerungsliteratur an das jiddische Vilne, und so fragt sie, welche Dinge auf welche Weise erinnert werden, aber auch, welche Leerstellen in der Erinnerung existieren und was für ein Bild dem jeweiligen Leser dargeboten wird. Um den Ansatz der Arbeit besser verstehen zu können, wird hier kurz auf die beiden Schriftsteller eingegangen. Beide verbrachten ihre Kindheit und Juden in Wilna und gehören zu der äußerst kleinen Zahl von Literaturproduzenten in jiddischer Sprache, die den Holocaust überlebten. Grade konnte 1941 vor dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion fliehen. Er kehrte 1946 nach Wilna zurück, ging aber binnen kürzester Zeit nach Paris und von dort aus nach New York, wo er bis an sein Lebensende blieb. Karpinovitsh machte sich 1937 auf den Weg nach Birobidžan. Von dort kehrte er 1944 nach Wilna zurück, emigrierte dann über Zypern nach Palästina und verbrachte sein restliches Leben in Israel. Damit sind schon zwei klassische Migrationswege von Wilnaer Juden, die dem Holocaust entrinnen konnten, skizziert. Die Werke beider Schriftsteller standen in der späteren Nachkriegszeit im Schatten des literarischen Werkes von Isaak Basevish Singer und erlangten keine größere Bekanntheit, da die Bücher auch selten ins Englische oder andere Sprachen übersetzt wurden.

Studer benutzt also diese autobiographische und belletristische Literatur als historische Quellen, wobei sie deren Aussagen miteinander vergleicht, aber zur Einordnung und Interpretation auch Texte weiterer Personen und Erinnerungen anderer Wilnaer Jüdinnen und Juden hinzuzieht. Methodisch orientiert sie sich an dem Modell der Lebenswelten, die literarisch erinnert werden. Sie betrachtet also die verwendete Literatur im Sinne Noras als Erinnerungsort. Sie richtet sich nach dem von Monica Rüthers vorgeschlagenen Modell zur Analyse literarischer Texte und geht in drei Schritten vor. Zuerst fragt sie nach dem situativen Kontext. Dann analysiert sie soziale und kulturelle Praktiken und ergründet anschließend die Botschaft des Gesamttextes. Auf eine vollständige Übersetzung der jiddischen Texte ins Deutsche hat die Autorin bewusst verzichtet, da sie meint, das das Lesen der jiddischen Texte nicht nur eine inhaltliche Annäherung an das Thema bedeute, sondern auch eine sprachlich-emotionale (S. 32).

Der Hauptteil des Buches gliedert sich in vier Abschnitte. Zum einen geht es um die Lebensverhältnisse der Wilnaer Juden. Hier werden architektonische Besonderheiten beschrieben sowie Wohnformen der dort ansässigen Juden. Es folgt eine Schilderung der Erwerbssituation im jüdischen Viertel, innerhalb derer natürlich die Welt des Handels großen Raum einnimmt, aber auch das Handwerk dargestellt wird. Ausführungen zu den Themen Armut und Wohltätigkeit runden das Kapitel ab. Der zweite Abschnitt befasst sich mit Wilna als einem Ort traditioneller Jüdischkeit. Die Autorin erörtert Fragen von religiöser Tradition und der Kritik daran. Ferner gibt sie anhand ihrer Quellen Einblicke in die religiöse Gelehrsamkeit der einfachen Juden und das Begehen der jüdischen Feiertage. Darüber hinaus werden auch Missachtungen von Feiertagsregelungen sowie Anzeichen von Glaubenszerfall erörtert. Inhaltlich bietet der nächste Abschnitt einen großen Kontrast zu dem davorstehenden, denn in ihm geht es um Wilna als einen Ort der modernen jüdischen Kultur. Eingeschlossen werden darin: die Existenz des YIVO (des Anfang der zwanziger Jahre begründeten Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts), weltliche Schulen, jiddisches Theater und Presse sowie alle politischen Bewegungen wie Zionisten, Bundisten und jüdische Kommunisten. Der vierte Abschnitt liefert Momentaufnahmen jüdischer Lebenswelten, wozu gerade auch das eheliche Zusammenleben und alle damit zusammenhängenden Varianten und Unfälle zählen. Ebenfalls durften Unterwelt und Prostitution nicht unerwähnt bleiben. Es folgt eine kurze Betrachtung über Kontakte mit Nichtjuden.

Mithilfe der literarischen Quellen, die hier zum ersten Mal ausgewertet werden, lässt sich ein recht differenziertes Bild der jüdischen Unterschicht in Wilna zeigen. Dabei weisen die Texte der beiden Autoren unterschiedliche Blickwinkel auf. Chaim Grade beschreibt hauptsächlich Aspekte der traditionellen „yidishkeyt“, der religiösen Verbun­den­heit der Juden, die sich in der Einhaltung von religiösen Gesetzen, Werten und Normen äußert. Diese Haltung entspringt aus seiner persönlichen Verbundenheit mit der jüdi­schen Orthodoxie vor Ort. Abraham Karpinovitsh widmet sich anderen Blickwinkeln. Er nimmt Formen der modernen jüdischen Identität in den Blick wie das YIVO und die Arbeit der Folkloristen. Darüber hinaus interessieren ihn politisch aktive Juden und Vertreter von Randgruppen. Studer resümiert, dass die Sichtweisen beider Autoren als gegenseitig bereichernd zu betrachten seien und es ihren Schriften zu verdanken sei, dass der Ort auch als eine Lebenswelt von verarmten Jüdinnen und Juden erinnert werden kann (S. 370), als eine untergegangene Welt, die sowohl von Konflikten als auch von Spannungen gekennzeichnet war. Der Band liefert wichtige Einblicke in jüdisches Leben in der Zwischenkriegszeit im ostmitteleuropäischen Raum und schließt somit gerade für den Standort Wilna eine Forschungslücke.

Ruth Leiserowitz, Warschau

Zitierweise: Ruth Leiserowitz über: Sandra Studer: Erinnerungen an das jüdische Vilne. Literarische Bilder von Chaim Grade und Abraham Karpinovitsh. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 398 S., 17 Abb. = Lebenswelten osteuropäischer Juden, 15. ISBN: 978-3-412-21118-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Leiserowitz_Studer_Erinnerungen_an_das_juedische_Vilne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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