Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 485-488

Verfasst von: Stephan Lehnstaedt

 

Cordula Kalmbach: Das Massaker erinnern. Katyń als lieu de mémoire der polnischen Erinnerungskultur. Frankfurt a.M.: Lang, 2015. 308 S., 39 Abb. ISBN: 978-3-631-65871-0.

Thomas Urban: Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens. München: Beck, 2015. 249 S., 11 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-3-406-67366-5.

Claudia Weber: Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyń. Hamburg: Hamburger Edition, 2014. 471 S. ISBN: 978-3-86854-286-8.

Der Name Katyń steht für eines der großen Verbrechen des stalinistischen Terrors: einen Mord an der polnischen Elite nach dem Überfall auf das Land – gemeinsam mit Deutschland – im September 1939. Im April und Mai 1940 erschoss der NKWD auf direkten Befehl von Josef Stalin 14.542 polnische Kriegsgefangene aus drei sowjetischen Sonderlagern, davon 4.421 im nahe Smolensk gelegenen Katyń. Weitere über 7.000 polnische Kriegsgefangene an anderen Orten wurden ebenfalls in diesem Zeitraum umgebracht. Bei den Getöteten handelte es sich vor allem um Offiziere, die zu größeren Teilen als Reservisten eingezogen waren und den intellektuellen und politischen Eliten entstammten.

Ein Massaker wie viele andere im genozidalen Zweiten Weltkrieg? In Deutschland könnte man geneigt sein, dem auch angesichts der eigenen Verbrechen zuzustimmen. Und tatsächlich erfuhr dieser Mord hierzulande bisher wenig Aufmerksamkeit – oder besser: Seit 1945 erfuhr er nur noch wenig Aufmerksamkeit. Während des Kriegs freilich war das anders, denn es war die Wehrmacht, die im Februar 1943, während ihrer Besatzung in der Sowjetunion, die Massengräber entdeckte. Seit April bezog das Deutsche Reich sie in die antisowjetische Propaganda mit ein. Joseph Goebbels, der Reichspropagandaminister, koordinierte federführend diese Aktion, die beispielsweise eine Kommission aus Gerichtsmedizinern nach Osten führte – an der bis auf einen Schweizer nur Vertreter aus verbündeten Staaten bereit waren teilzunehmen.

Gleichzeit versuchte Berlin, damit einen Keil zwischen die Alliierten zu treiben. Tatsächlich hatten sich die in die Sowjetunion geflohenen und nicht erschossenen Polen um General Anders sowie die Exilregierung in London mehrfach nach dem Schicksal ihrer verschollenen Landsleute im Kreml erkundigt, aber Stalin hatte jede Möglichkeit eines Verbrechens stets zurückgewiesen und seine Verbündeten mit Ausflüchten abgespeist. Im Frühjahr 1943 ergab sich nun für Goebbels die Möglichkeit, diesen potentiellen Streitpunkt zu instrumentalisieren. Nicht zuletzt ließ er alliierte kriegsgefangene Offiziere nach Katyń bringen, damit sie sich dort selbst ein Bild machen könnten. Auch einige Polen gelangten als offizielle Gäste dorthin. Alle Besucher waren sich schnell einig, dass an einer sowjetischen Täterschaft kein Zweifel bestehen könne, zu erdrückend waren die Beweise – beispielsweise der Verwesungszustand der Leichen, ihre Kleidung sowie die bei ihnen gefundenen Dokumente, die alle auf 1940 zu datieren waren.

In Moskau ließ Stalin nach wie vor jede Schuld dementieren und stellte die Propagandaaktion als eine weitere Lüge des Nationalsozialismus dar; gegenüber den in der Roten Armee dienenden polnischen Truppen konnte er unverblümt auf seine Stärke und ihre Schwäche pochen und jegliche Kritik als feindliches Verhalten brandmarken. Im Westen wiederum sahen Churchill und Roosevelt keinen Anlass, der Sache näher auf den Grund zu gehen, und sie legten der Exilregierung nahe, nicht auf einer unabhängigen Untersuchung zu insistieren. Stalin war in Washington und London ein Partner, an dessen Wort man nicht zweifeln wollte. Als die Sowjetunion das Gebiet um Katyń im Herbst 1943 zurückeroberte, entsandte sie wenig später selbst eine Expertenkommission, der wiederum nur Sachverständige aus dem eigenen Machtbereich angehörten, während unabhängige Mediziner fehlten.

Mittels massiven Drucks auf die Zeugen sowie geschickter Umdeutung der Fakten – der NKWD hatte beispielsweise deutsche Waffen und Munition benutzt, weil diese zuverlässiger als die eigenen Produkte waren, was sich nun als Indiz für eine deutsche Täterschaft interpretieren ließ – entstand unter der Leitung von Nikolai Burdenko ein Bericht, der die Verantwortung den nationalsozialistischen Besatzern zuwies. Hierauf beriefen sich der Kreml ebenso wie seine Verbündeten in den nächsten fünfzig Jahren. Moskau lud zudem westliche Besucher ein, die in einer aufwändigen Inszenierung an die Massengräber geführt und dort erfolgreich von der sowjetischen Unschuld überzeugt wurden.

Dieser „Krieg der Täter“ ist es, den Claudia Weber, Professorin an der Universität Frankfurt an der Oder, in ihrem Buch untersucht. Und sie macht keineswegs 1945 halt, sondern widmet der Nachkriegszeit 150 Seiten, in der sie etwa ausführlich analysiert, wie Stalin den Fall Katyń auch vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zur Anklage bringen und damit einmal mehr eine deutsche Verantwortung für die Massenmorde festschreiben lassen wollte. Aber die angloamerikanischen Juristen waren nicht gewillt, der Verteidigung eigene Zeugen oder kritische Nachfragen zu verweigern, weshalb das Verbrechen nicht der Wehrmacht zugeschrieben werden konnte und Stalin letztlich eine Niederlage vor Gericht erlitt. Und obwohl im Ostblock die Interpretation mit der deutschen Schuld bis 1990 offizielle Doktrin war und nicht hinterfragt werden durfte, ließ sich doch die Wahrheit nicht unterdrücken.

Nicht zuletzt bildete das US-Abgeordnetenhaus 1951/52 einen Untersuchungsausschuss unter Ray Madden, der ganz klar feststellte, dass das Massaker von sowjetischen Einheiten begangen worden sei. Gleichzeitig mied der Westen das Thema, einerseits weil es kein Ruhmesblatt der eigenen Führer war, andererseits weil Katyń immer wieder genutzt wurde, um von den nationalsozialistischen Verbrechen abzulenken bzw. diese zu relativieren. Und nicht zuletzt gab es im Kalten Krieg schlicht wichtigere Streitpunkte. In der Polemik rechter wie linker Splittergruppen hingegen spielte das Schlagwort immer wieder eine große Rolle.

All dies kann man im Detail bei Weber nachlesen. Ihr Werk bringt die Fakten zu Gehör, zeigt die Argumentationen der jeweiligen Parteien anhand eingehender Quellenstudien und liest sich darüber hinaus auch flüssig. Wo immer es um die Sowjetunion geht, ist die Darstellung höchst präzise und informiert. Auch die Geschichte der Entdeckung der Gräber kann sie präzise nachzeichnen; Weber argumentiert hier überzeugend, dass es letztlich der polnische Widerstand war, der die Totenstätte erstmals auffand. Bei der deutschen Inszenierung kann das Werk mit vielen Quellen deren Professionalität nachzeichnen, bei der sowjetischen hingegen wird vor allem Dilettantismus belegt.

Schwächen leistet sich Weber insbesondere bei der Rezeption der Fachliteratur. Offensichtlich war es ihr nicht möglich, polnische Studien zur Kenntnis zu nehmen, was gerade angesichts der enormen Bedeutung, die Katyń bis heute in Polen hat, etwas bizarr anmutet – tatsächlich ist die Forschungslandschaft so umfassend, dass bereits Bibliographien in Buchform vorliegen. Diese Unkenntnis der Sprache spiegelt sich auch in zahlreichen kleineren Fehlern bei polnischen Eigennamen wider, was bis hin zur Verwendung von ê statt ę geht. Das ist in jedem einzelnen Fall zwar nicht weiter schlimm, aber in der Gesamtheit doch ärgerlich.

Wie grundlegend und umfassend die polnische Forschung letztlich ist, zeigt das Werk des langjährigen Warschau-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung Thomas Urban. Er arbeitet ausschließlich mit Fachliteratur (sowie einigen Zeitungsmeldungen), ist aber des Polnischen mächtig. Und tatsächlich wird der Leser bei ihm kaum etwas vermissen, das er bei Weber auch finden kann; natürlich ist der Publizist längst nicht so ausführlich, aber seine Fakten und Interpretationen stimmen bis auf Nuancen mit denen der Professorin überein. So hat Webers Perspektive natürlich ihre Berechtigung, und dafür waren Quellenstudien unerlässlich, aber vieles davon wäre bereits auf Polnisch nachlesbar gewesen.

In beiden Büchern treten die sprachlichen Kompetenzen ihrer Verfasser durchaus gewinnbringend zu Tage; wo Weber auf die Täter blickt, rücken bei Urban vor allem die Opfer in den Fokus. Er schreibt journalistisch, pro-polnisch und gelegentlich polemisierend gegen Russland, die Sowjetunion und die Westalliierten. Auf methodische Reflexionen zum Plausibilitätsgehalt bzw. zu den Intentionen der vielen Zeugen verzichtet Urban und präsentiert eine abgeschlossene, positivistische Geschichte. Dabei geht es ihm nicht um den Propagandakrieg zwischen Ost und West, sondern eher um die Frage, warum sich die offensichtliche Wahrheit so lange offiziell nicht durchsetzen konnte; dies verbindet er beispielsweise mit dem Schicksal der polnischen Exilregierung in London, die von englischer wie sowjetischer Seite unter Druck gesetzt wurde, um die Allianz gegen Hitler nicht durch einen offenen Bruch zu gefährden.

Dadurch verschieben sich gegenüber Weber die Gewichtungen. Die Madden-Kommission ist für ihn bedeutsamer, vor allem aber die Haltung der Polen zu Katyń nach 1945, was im „Krieg der Täter“ weitestgehend außen vor bleibt. Urban zeigt hier, dass die Tabuisierung des Massakers in der Volksrepublik wohlbegründet war, denn vereinzelte Propagandaaktionen, die die Schuld den Deutschen zuschreiben wollten, erreichten das Gegenteil: Sie brachten den Massenmord in Erinnerung und warfen viele Fragen auf. Überzeugen kann insbesondere ein Kapitel zur Geschichte nach 1990, in dem unter der Überschrift Gorbatschows Tricksereien dargestellt wird, wie auch in Zeiten von Glasnost und Perestroika die Wahrheit unterdrückt wurde – das liest sich spannend wie ein Politthriller und geht deutlich über Webers Betrachtungen hinaus.

Ausführlich geht Urban zudem auf die Probleme der polnisch-russischen Wahrheitsfindung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein, wobei er insbesondere die polnischen Irritationen über die Moskauer Verweigerungshaltung angesichts dieses nationalen Traumas schildert. Letzteres ist Ausgangspunkt von Cordula Kalmbachs bei Dietmar Neutatz in Freiburg entstandener Dissertation, die Katyń als polnischen lieu de mémoire in den Blick nimmt. Leider bleibt das Buch angesichts dieser sehr spannenden Problematik recht unbefriedigend. So werden zwar interessante und relevante Beispiele vorgeführt, etwa Andrzej Wajdas Katyń-Film von 2007, nichtwissenschaftliche Literatur zum Thema, ausgewählte Denkmäler und individuelle wie institutionelle Akteure der Erinnerung finden Beachtung. Allerdings beschränkt sich Kalmbach konsequent auf eine formale Beschreibung – die zwar durchaus überzeugt, aber nur der Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen sein sollte. Doch letztere unterbleiben, die Analyse ist blass und die Ergebnisse ebenso erwartbar wie nichtssagend: Demnach gelten die Toten von damals heutzutage als Helden, die gegen ein verbrecherisches System gekämpft haben; sie stehen für „moderne“ Werte, auf die man sich beruft. Und das lange Totschweigen ihrer Opfer zeigt einmal mehr den verbrecherischen Charakter des Sozialismus, der Polen bis 1989 unterdrückte.

In Teilen liest sich das mit über 120 Unterkapiteln übertrieben gegliederte Buch wie eine Art Katyń-Lexikon. Was soll der Leser etwa mit einer Aussage wie dieser anfangen: „Auch die Katyń-Literatur leistet ihren wichtigen Beitrag dazu, Trauer in abgeschlossene Vergangenheit zu wandeln“ (S. 171)? Bei den Denkmälern stellt Kalmbach erst die allgemeine Denkmalforschung vor, um dann im Grunde deren Befunde durch ihre Beispiele bestätigt zu sehen. Aber was bedeutet es denn nun, wenn über 200 Katyń-Denkmäler in Polen existieren? Sind diese wirklich nur Orte, an denen Angehörige trauern und Politiker sich inszenieren können? Findet das statt, in welcher Form und zu welchem Zweck?

Wenn, wie in der Einleitung angesprochen, die polnische Mentalität mit dieser Studie besser verstanden werden soll, um interkulturellen Missverständnissen vorzubeugen, hätten Fragen etwa zum Stellenwert Katyńs im heutigen Polen – auch im Vergleich zu anderen modernen lieux de mémoire wie dem Warschauer Aufstand, der Solidarność oder Jedwabne – gestellt werden müssen. Die angekündigte, aber nicht eingelöste Analyse der Transformation von Erinnerung in einem sich transformierenden Land wäre ebenfalls von Relevanz und Interesse gewesen. So bleibt das Buch, das von den drei hier besprochenen Werken tendenziell den größten Neuigkeits- und Innovationsgehalt bieten könnte, doch hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Stephan Lehnstaedt, Warschau

Zitierweise: Stephan Lehnstaedt über: Cordula Kalmbach: Das Massaker erinnern. Katyń als lieu de mémoire der polnischen Erinnerungskultur. Frankfurt a.M.: Lang, 2015. 308 S., 39 Abb. ISBN: 978-3-631-65871-0. Thomas Urban: Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens. München: Beck, 2015. 249 S., 11 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-3-406-67366-5. Claudia Weber: Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyń. Hamburg: Hamburger Edition, 2014. 471 S. ISBN: 978-3-86854-286-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Lehnstaedt_SR_Katyn.html (Datum des Seitenbesuchs)

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