Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 264-265

Verfasst von: Daniel Lalić

 

Otto Boele Erotic Nihilism in Late Imperial Russia. The Case of Mikhail Artsyba­shev’s “Sanin.” Madison: University of Wisconsin Press, 2009. XIII, 255 S., 7 Abb. = Mellon Slavic Studies Initiative Books. ISBN: 978-0-299-23274-0.

Michail Petrovič Arcybašev wird traditionell zur zweiten Riege russischer Schriftsteller gezählt, und sein erfolgreichstes Werk, der Roman „Sanin“ aus dem Jahr 1907, existiert weitgehend nur noch als literaturwissenschaftliche Anekdote weiter.

„Sanin“ hat allgemein den Ruf, ein zwar skandalöses, jedoch triviales Werk eines mittelmäßigen Autors zu sein, dessen Schaffen ab den 1920er Jahren in der Sowjet­union als Inbegriff des Dekadenten während der letzten Jahre der Zarenherrschaft betrachtet wurde – was Boele pointiert als „Ugly Face of the Silver Age“ bezeichnet. Der Roman über den ehemaligen Studenten Sanin, der in seine heimatliche Provinzstadt zurückkehrt und nicht nur der Frage nach seinem Lebenssinn, sondern auch einigen Affären nachgeht, wurde von der literarischen Fachkritik weitgehend negativ beurteilt, und aufgrund seines angeblich pornographischen Charakters von der Zensur verboten. Dennoch wurde er ein Erfolg und galt als Werk, das den Zeitgeist der russischen Jugend am treffendsten wiedergab und als Namensgeber für ein kurzlebiges Phänomen der Jahre 1907/1908 in der russischen Gesellschaft fungierte: Saninismus.

Die Jahre nach der Revolution von 1905 waren geprägt von gesellschaftlichem Aufbruch und Wandel, aber auch einer allgemeinen Unsicherheit. Vor diesem Hintergrund mehrten sich ab 1907 Berichte besorgter Eltern, anonyme Pamphlete, Gerüchte und entsprechende Zeitungsartikel über haltlose Teenager, die weder Respekt, Ideale noch Ziele zu haben schienen. Das Besondere an diesem eigentlich klassischen Generationenkonflikt war, dass ihm mit Arcybaševs Roman ein Name gegeben wurde. Sanin wurde eine Vorbildfunktion zugesprochen, die durchaus analog zu Turgenevs Bazarov und den Nihilisten der 1860er Jahre zu verstehen ist.

Boeles Arbeit hat daher die Analyse der Rezeption des Romans und des nach ihm benannten Phänomens zum Ziel. Die den Saninismus kennzeichnende Verflechtung von Literaturkritik, gesellschaftlichen Reaktionen und regelrechter Medienhysterie als Teil der öffentlichen Meinung wird in schlüssiger Form analysiert und damit überzeugend dargelegt, wie aus dieser wechselseitigen Verbindung ein kollektives Phänomen mit zum Teil irrationalen Eigenschaften entstehen konnte.

Ein Bestandteil des Saninismus, wie er in der Öffentlichkeit kommuniziert wurde, war die Idee eines landesweiten Netzes von sog. „Ligen der Freien Liebe“, deren meistens weibliche und minderjährige Mitglieder in geheimen Versammlungen Orgien abhielten. Konkrete Beweise – außer fragwürdigen Zeitungsartikeln, Leserbriefen und anonymen „authentischen“ Berichten – lassen sich aber nicht finden. Für Boeles Analyse ist die Frage nach der Existenz solcher Gruppen jedoch von eher sekundärer Bedeutung, da diese als Vorstellung in der öffentlichen Meinung und im gesellschaftlichen Diskurs durchaus existent waren.

Kontrovers, aber nicht neu im damaligen kulturellen Kontext war die implizite Kritik des Romans, die auf das intellektuelle Establishment zielte, denn Arcybaševs Titelheld verweigert sich der kollektiven Vorstellung von einem ‚typischen‘ Intellektuellen: Er bejaht das Leben, ist sexuell aktiv und verdient seinen Lebensunterhalt nicht mit klassischen studentischen Tätigkeiten wie dem Erteilen von Unterricht oder – im Idealfall – dem Bezug eines Stipendiums, sondern mit körperlicher Arbeit. Sanin, der weder an Schwindsucht noch an Hunger leidet, hat seinen Widerpart im Romancharakter Semënov, der, blass und früh gealtert, gleichsam als maliziöse Karikatur eines vergeistigten, laut Arcybašev lebensunfähigen Studenten zu verstehen ist. Es drängt sich daher die Frage auf, inwieweit diese nietzscheanisch anmutende Kritik am herrschenden Habitus der Intelligenzija die ablehnende Haltung der Literaturwelt gegenüber dem Roman provozierte. Diese Fragestellung wird in der Monographie zwar aufgegriffen, erfährt aber eher nur kursorische Betrachtung.

Boele macht deutlich, dass Saninismus keine dogmatische Lehre einer rebellierenden Jugend war, sondern ein komplexes System einzelner, sich überlappender Diskurse, die vorwiegend in Künstler- und Literaturkreisen sowie der Presse geführt wurden. Ein Medienereignis – und keine wirkliche Jugendbewegung. Saninismus wird als Symptom einer allgemeinen Unsicherheit betrachtet, vor allem in Bezug auf Fragen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen des letzten Jahrzehnts der Zarenherrschaft. Ein methodisches Problem der besprochenen Arbeit ergibt sich jedoch aus der zwangsläufigen Tatsache, dass es aufgrund der Quellenlage nahezu unmöglich ist, alle unterschiedlichen Rezeptionsarten, Lesermeinungen und Reaktionen auf „Sanin“ sowohl zu finden, als auch entsprechend zu untersuchen.

Insgesamt stellt die gut lesbare Arbeit aber den geglückten Versuch dar, ein Phänomen, das den kulturellen wie gesellschaftlichen Diskurs Russlands der Jahre 1907 / 1908 in hohem Maße bestimmte, einer Neubewertung zu unterziehen. Boele gelingt dies – er fügt damit dem heutigen Gesamtbild des russischen „Silbernen Zeitalters“ einen bis dato weitgehend vergessenen, schillernden Mosaikstein hinzu.

Daniel Lalić, Passau

Zitierweise: Daniel Lalić über: Otto Boele: Erotic Nihilism in Late Imperial Russia. The Case of Mikhail Artsybashev’s “Sanin”. Madison, WI: The University of Wisconsin Press, 2009. XIII. = Mellon Slavic Studies Initiative Books. ISBN: 978-0-299-23274-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Lalic_Boele_Erotic_Nihilism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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