Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 320-321

Verfasst von: Jan Kusber

 

Robert E. Jones: Bread upon the Waters. The St. Petersburg Grain Trade and the Russian Economy, 17031811. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2013. XII, 298 S., 30 Tab., 4 Ktn.. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-4428-7.

Mit St. Petersburg wurde eine Stadt an der Peripherie des Reiches zur Metropole und Residenz, die zwar einerseits als Hafen eine wichtige Funktion besaß, jedoch darauf angewiesen war, dass Lebensmittel zu Versorgung der wachsenden Bevölkerung von weither herangeführt wurden. Dies war einer der Gründe, warum Denis Diderot Katharina II. vorschlug, die Hauptstadt wieder nach Moskau zurückzuverlegen. Bekanntermaßen lehnte Katharina ab; das Problem aber blieb: Wie und auf welchem Wege konnte die Hauptstadt versorgt werden?

Dies ist die zentrale Frage des neuen Buches von Robert E. Jones, einem ausgewiesenen Experten für Russland im 18. Jahrhundert und hier insbesondere für den (Hoch)adel in der Zeit Katharinas II. Ganz zu Recht stellt er einleitend fest, dass über die Wirtschaftsgeschichte Russlands im 18. Jahrhundert, insbesondere auch über wirtschaftsgeographische Fragen im Zuge der katharinäischen Reformpolitik, zu wenig geforscht und bekannt ist. Den Grund hierfür macht er in den vorherrschenden kulturgeschichtlichen Zugängen aus, die er im Hintergrund seiner Arbeit mitdenkt, die aber seines Erachtens „in der Luft hängen“, wenn wirtschaftsgeschichtliche Grundlagen unbekannt bleiben. Pointiert ließe sich formulieren, dass ohne die Kenntnis der ökonomischen Basis die Erforschung der symbolischen Kommunikation ins Leere läuft. Dem will er mit dem vorliegenden Buch abhelfen. Auf der anderen Seite betont Jones selbst die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten seines Zugangs. Über Lebenswelten der Menschen, wie sie etwa David Ransel jüngst zum 18. Jahrhundert in Russland interessierten, gibt sein Ansatz nur begrenzte Aufschlüsse.

Jones gliedert sein Buch in acht thematische Kapitel, die für sich gelesen werden können und die jeweils einen plastischen Einstieg über „eine Geschichte“ wählen, um dann diese „Geschichte“ zu kontextualisieren und mit quantitativen Daten zu unterfüttern. Deren teilweise begrenzte Aussagekraft nutzt er umsichtig. Kapitel 1 und 8 bieten jeweils den historischen Kontext. Im ersten Kapitel schildert Jones die Gründung der Stadt an der Peripherie und ihren wachsenden Versorgungsbedarf, den man noch in der Zeit Peters I. grundsätzlich lösen wollte, indem der Staat massiv über Kanalbauten in die Infrastruktur investierte, um über weite Entfernungen Getreide in dem benötigten Ausmaß heranführen zu können. Schon in diesem Kapitel konstatiert Jones – und dies wird er in den folgenden wiederaufgreifen –, dass der Staat zwar oft den Rahmen setzte und die Initiative ergriff, dass aber überall das private ökonomische Interesse so groß war, dass diese Angebote genutzt und fortentwickelt wurden. Freilich blieb das Problem der Versorgung brisant, da die Stadt auch im 18. Jahrhundert schnell und dynamisch wuchs. Noch 1808 hieß es in einem Brief an Alexander I., dass die Ernährung der Hauptstadt eine Herausforderung bleibe.

In den mittleren Kapiteln arbeitet Jones eine Fülle von Fragen ab, die sich aus dem Fokus seiner Untersuchung ergeben. Er schildert, wie das südwestliche und nordwestliche Hinterland in ihrem Handel auf St. Petersburg orientiert wurden; er stellt in einem mikrogeschichtlichen Zugriff vor, wie Provinzen und Provinzorte in den Handel eingebunden wurden, und er fragt nach Trägergruppen des Handels: Es waren keineswegs nur adlige Unternehmer, die sich im Handel engagierten, sondern auch die von Peter I. und Katharina II. auf je unterschiedliche Weise geförderte, auch rechtlich gefasste Gruppe der Kaufleute. Jones zeigt, in welchem Ausmaß Roggen und Weizen, auch in verarbeiteter Form, durch das Land transportiert wurden und wie der Handel selbst über große Distanzen organisiert wurde. Jones lässt sich auch auf das schwierige Thema der Finanzierung von überregionalem Handel ein, indem er das wenig entwickelte Bankwesen, die Bedeutung des Papierrubels und von Geldwechseln für die praktische Durchführung darstellt.

In den letzten beiden inhaltlichen Kapiteln beschäftigt sich Jones mit der Südexpansion des Imperiums und seiner Bedeutung für den Handel sowie mit den neuen Initiativen von Paul I., der zu den Kritikern der Südwendung Katharinas gehörte und wieder stärker auf die verbesserte infrastrukturelle Anbindung St. Petersburgs setzte. Mit einer grundlegenden Überholung der Lagoda-Kanals und der Inbetriebnahme des Mariinskij-Kanals in der Zeit Alexanders I. existierten zumindest drei alternative Wasserwegsysteme, um Getreide von der Wolga nach St. Petersburg zu bringen. Zugleich florierte aber auch der Hafen von Odessa, der nach dem Frieden von Jassy angelegt werden konnte und zu der Metropole im Süden avancierte.

In seinem Schluss plädiert Jones nachdrücklich und überzeugend, das Wirtschaftssystem Russlands nicht als etwas von europäischen Ökonomien Distinktes zu sehen, sondern als eine europäische Variante. Dieser Befund ist nicht deshalb überzeugend, weil auch die Eliten des Imperiums dies im 18. Jahrhundert selbst so sahen und auch die politischen Eliten in Europa das Russland der Sattelzeit als eine „europäische Macht“ begriffen, sondern vor allem auch, weil die Marktmechanismen, das erfolgreiche private mittlere und kleinere Unternehmertum, der regionale bäuerliche Handel und die elaborierte Nutzung eines differenzierten Systems von Wechseln dafür sprechen. Gerade für die Mikroebene hat der Autor interessantes Archivmaterial zutage gefördert. Das von ihm aufbereitete statistische Material gibt vielfältigen Aufschluss über Wirtschaftsweise und ökonomisches Handeln im Russland des 18. Jahrhunderts und geht über jüngere und ältere Standardwerke in seiner Nuanciertheit deutlich hinaus. Man kann Robert Jones nur zustimmen: Wirtschaftsgeschichte zu schreiben, dies zeigt sein verdienstvolles Buch, vermittelt lohnende Erkenntnisse.

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: Robert E. Jones: Bread upon the Waters. The St. Petersburg Grain Trade and the Russian Economy, 1703-1811. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2013. XII, 298 S., 30 Tab., 4 Ktn.. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-4428-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kusber_Jones_Bread_upon_the_Waters.html (Datum des Seitenbesuchs)

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