Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 3, S.  425-426

Dittmar Dahlmann (Hrsg.) Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2005. 297 S. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 68. ISBN: 3-515-08528-9.

Dieser Sammelband zur Geschichte des eigenen Faches geht auf eine Jubiläumskonferenz im Jahre 2002 aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des Berliner Seminars für Osteuropäische Geschichte zurück. Ihn anzuzeigen, ist eine besondere Herausforderung. Zum ersten deutet der Herausgeber an, dass sich das Erscheinen wie so oft bei Sammelbänden verzögerte, zum zweiten liegt der Band dem Rezensenten vier Jahre nach dessen Erscheinen zur Besprechung vor. Das entwertet den Band jedoch keineswegs. Er stellt, da eine Gesamtgeschichte der Disziplin nach wie vor fehlt, eine wertvolle Ergänzung zur „Geschichte Osteuropas“ dar, die Erwin Oberländer im Jahre 1991 herausgegeben hat.

Standen damals nach kurzen Skizzen über die Entstehung des Faches und seine Geschichte im Dritten Reich Institutionengeschichten des Faches in Westdeutschland im Mittelpunkt, setzt der neue Band andere Schwerpunkte. Zwar bietet auch er lesenswerte Beiträge von Roger Chickering über die Berliner Anfänge vor dem Hintergrund des Lamprechtstreits, von Dittmar Dahlmann über die Osteuropahistoriographie in der Zwischenkriegszeit auf der Basis neuer Archivalien und mit nuancierten Interpretationen sowie von Ingo Haar über das Verhältnis von Osteuropäischer Geschichte und Ostforschung, das er anhand der Auseinandersetzung zwischen Albert Brackmann und dem sehr positiv bewerteten Otto Hoetzsch personalisiert. Dankenswerterweise wird dann aber der in dem Band von 1991 enthaltene Abriss zur Entwicklung in der DDR um aufschlussreiche Artikel zur Osteuropaforschung in der DDR generell und zu Berlin und Leipzig im Besonderen ergänzt. Man wird das Grußwort von Günther Mühlpfordt sowie die Beiträge von Wolfgang Küttler, Lud­milla Thomas, und Lutz-Dieter Behrendt als Versuche lesen können, hier eine Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit mit dem Ziel der Integration in eine noch zu leistende Gesamtdarstellung des Faches zu bieten. Deutlich werden in ihren Beiträgen die Grenzen und Möglichkeiten wissenschaftlicher Forschung unter den ideologischen Vorgaben und politischen Konjunkturen in der DDR, freilich auch der Schmerz der Zeitzeugen über eine allzu schnelle Zerschlagung rettbarer Strukturen auch in personeller Hinsicht. Interessant ist hier im Kontrast der Aufsatz von Holm Sundhaussen über Ausbau und Niedergang des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin zu lesen. Auch enthält der Band Überblicke zur Entwicklung der Osteuropaforschung in Westdeutschland, die, wenn sie die Zeit nach 1945 behandeln, die Zeitzeugenschaft und gestalterische Teilnahme ausdrücklich thematisieren (zum Beispiel Hans Lem­berg) oder von vornherein eine Ergänzung durch Außenperspektiven bieten (Andreas Kap­peler).

Vor allem aber resümiert der Band die Entwicklungen der Osteuropaforschung anhand von Regionen (Günther Schödl zu Ostmitteleuropa, Edgar Hösch zu Südosteuropa), von Zugängen und Methoden, die verschieden lange etabliert sind und damit auch unterschiedlich bilanziert werden können. Diese Beiträge behandeln die Historiographie unter Aspekten der Kulturgeschichte (Rainer Lindner), der Geschlechtergeschichte (Carmen Scheide), des Verhältnisses zur Ethnologie (Dittmar Schor­ko­witz) und zur Sozialgeschichte (Manfred Hil­der­meier). Hildermeier deutet in seiner Verteidigung der Leistungen der Sozialgeschichte insbesondere amerikanischen Zuschnitts vor den Herausforderungen der Kulturgeschichte an, was Rainer Linder in seinem Überblick zur kultur­geschichtlichen Forschung erst anreißen konnte, sich unterdessen aber zu einem mächtigen Strom entwickelt hat. Kulturgeschichtliche Verfahrensweisen sind ins Zentrum der Diskussion gerückt, leicht auch mit einem allzu plakativen Hinweis auf die Mängel der Vorgänger, auf deren Schultern sie ruhen und ohne deren bleibend verdienstvolle Arbeiten die Basis kulturwissenschaftlicher Forschung kaum gegeben wäre. Die Osteuropäische Geschichte orientiert sich im Rahmen von Verbundforschung gerade in letzter Zeit massiv in eine kulturwissenschaftliche Richtung und integriert sich damit zugleich in die Geschichtswissenschaft allgemein in einem sehr viel stärkeren Maße als zuvor. Dies bedingt nach Auffassung des Rezensenten auch die schwache Ausprägung von Area-Studies, die oft im methodischen Bereich wenig Innovatives zu bieten vermögen. Bezeichnenderweise kommen die Beziehungen und Berührungspunkte zur Slavistik nur in den Artikeln über die Gründer- und Jugendzeit des Faches vor.

In einem ist Klaus Zernack zuzustimmen und in der Perspektive freilich wohl noch pessimistischer zu sehen: Die neuen Studienprogramme im Zeichen des Bologna-Prozesses sehen für Spracherwerb kaum oder gar keinen Freiraum mehr vor. Das trifft nachhaltig die auf dem Rückzug befindlichen Forschungen zum Mittelalter oder auch zur Frühen Neuzeit, sind doch diese Epochen für Osteuropa nicht als Vorgeschichte einer Moderne, sondern natürlich als Epochen aus eigenem Recht zu begreifen. Forschungen hierzu müssen natürlich nicht an allen Standorten im deutschsprachigen Raum betrieben, aber insgesamt doch fest verankert werden. Angesichts der aktuellen Methodendiskussionen und Forschungsinteressen tragen die aufschlussreichen Artikel zur Rezeption der deutschen Osteuropahistoriographie in Russland und der Sowjetunion (Sergej A. Allenov) und in Polen (Henryk Olszewski) in manchem den Charakter von Berichten aus einer Zeit, die im Dialog der Historikerinnen und Historiker eigentlich vorüber zu sein schien. Aber so wie das Fach auch in Deutschland selbst bei allen selbst gesetzten und verpassten Forschungsparadigmen natürlich nicht frei ist von der Beeinflussung durch die Zeitläufte, so gewinnen die Beiträge vor dem Hintergrund der Übertragung geschichtspolitischer Narrative in Forschungskonjunk­turen neue Aktualität.

Es handelt sich mithin, auch mit einigem Abstand zum Erscheinungsjahr, insgesamt um einen Band, der in vielem zum Nachdenken über das eigene Fach anregt.

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: Dittmar Dahlmann (Hrsg.): Hundert Jahre Osteuropaeische Geschichte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2005. 297 S. = Quellen und Studien zur Geschichte des oestlichen Europa, 68. ISBN: 3-515-08528-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 425-426: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kusber_Dahlmann_Hundert_Jahre.html (Datum des Seitenbesuchs)