Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 140-141

Verfasst von: Jan Kusber

 

Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich. Hrsg. von Jörg Baberowski, David Feest und Christoph Gumb. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2008. 408 S. = Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich, 11. ISBN: 978-3-593-38721-5.

Verbundforschungsprojekte liefern, wenn Sie erfolgreich arbeiten, einen interdisziplinären und einen disziplinären Ertrag. Der vorliegende Sammelband ist ein gutes Beispiele für den gelungenen disziplinären Ertrag eines Sonderforschungsbereiches, der aber auch die interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Verortung noch erkennen lässt. Es handelt sich jedoch um historische Studien, die die Leistungsfähigkeit eines kulturgeschichtlichen Ansatzes zeigen.  Der an der Geschichte des Zarenreiches im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts interessierte Leser erfährt in den verschiedenen Beiträgen im Detail viel Neues über Praktiken, Wahrnehmungen und – dies ist das Schlüsselwort – über Repräsentationen der Zentrale in der Provinz des Zarenreiches. Dies geschieht in der Regel aus einer akteurszentrierten Perspektive und konsequenterweise weniger von strukturgebenden Merkmalen ausgehend. Insofern fällt der gedankenreiche, aber über einen langen Zeitraum hinweg Veränderungen sozialer Ordnung aus der Perspektive militärischer Notwendigkeiten heraus entwickelnde Beitrag „Aus der Perspektive des Schlachtfeldes: ‚Krieg, soziale Ordnung und Imperium in Japan und Russland‛“ von Christoph Gumb und Daniel Hedinger aus dem Konzept des Sammelbandes heraus. Er vergleicht Strukturen und Zeitschnitte unter dem Aspekt militärischer Leistungsfähigkeit.

In einem ersten Abschnitt über Autokratie und Inszenierung von Herrschaft variieren Jörg Baberowski in seinem Beitrag zu vormodernen Herrschaft im späten Zarenreich und Richard Wortmann in seinem Essay zu Repräsentationen der russischen Monarchie und ihren Szenarien der Macht ihre bereits andernorts publizierten Beobachtungen.

Die Herrschaft in der Provinz behandelt Jörg Ganzenmüller mit seinem Beitrag über die schwierige Herstellung von Ordnung und Integration in der litauisch-weißrussischen Provinz zwischen 1772 und 1832 als Folge der Teilungen, und zeigt überzeugend auf, welche Potentiale eine kulturgeschichtliche Sicht auf Verwaltung besitzt. Inhaltlich schließt Susanne Schattenbergs Aufsatz über das Selbstverständnis der Gouverneure in der Vorreformzeit direkt an. Auf die lokale Ebene geht David Feest in seiner feinen Studie über die Beleidigung dörflicher Amtsleute und die Repräsentation des Staates im ausgehenden Zarenreich. Sie zeigt auf, wie uneindeutig die Position eines zarischen Beamten war.

Der Abschnitt zur  Herrschaft an der Peripherie beschäftigt sich mit der westlichen Peripherie, mit Polen, Litauen und Estland, und hier vor allem mit den jeweiligen Zentren. In den Beiträgen von Theodor Weeks, Malte Rolf und Karsten Brüggemann wird eindrucksvoll deutlich, welche Rolle Bauen und Denkmalsetzung im Kontext herrscherlicher Repräsentation spielen konnte und welche umkämpften Felder sich gerade im Kontext eines Anspruches „russischer“ Herrschaft über die polnischen, estnischen, deutschen, litauischen Untertanen ergaben. Unwillkürlich geht der Leser all jene Alexander-Nevskij-Kirchen durch, die zur Unterstützung des Herrschaftsanspruches gebaut wurden und gewinnt eine eindrucksvolle Kartierung imperialen Herrschaftsanspruches. Dass Peripherie nicht geographisch „am Rand“ liegen musste, zeigt Walter Sperling in seinem Beitrag über die kontroversen Diskussionen über Streckenführung und Abschätzung von ökonomischen Folgen des Eisenbahnbaus in der russischen Provinz.

Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit Herrschaft in der Krise und behandelt die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Christoph Gumb schildert den Stadtraum Warschau in der Revolution von 1905 als Gewaltraum. Felix Schnell erörtert differenziert Bild und Selbstbild der Polizei in Moskau vor dem Ersten Weltkrieg. Igor V. Narskij diskutiert kenntnisreich die sich von der Symbolwelt der Autokratie ablösende Repräsentations- und Symbolwelt der Schwarzhundertschaften im Uralgebiet vor dem Ersten Weltkrieg. Tim Buchen wählt als sein Beispiel die prekäre Herrschaft Habsburgs in der politischen Landschaft Galiziens anhand eines politisch-biographischen Zugangs. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen Stanisław Stojałowski und die christlich-nationale Bewegung. Dass es sich bei den in den Fallbeispielen dieses Abschnitts beobachteten Phänomenen jeweils um eine Herrschaft in der Krise handelte, wird aus der Situation deutlich, vor allem aber auch vom Jahr 1917 aus betrachtet, das gerade bei diesem Abschnitt stets im Hintergrund präsent ist.

Nicht in diese Abschnitte fügt sich der spannende Artikel von Alexander Martin zu Schmutz, Gestank und Geruch und die Repräsentation städtischer Eliten Moskaus im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert. Er ist insofern interessant, als das sinnlich Erfahrbare und seine Ausblendung im städtischen Raum als Kategorie in den Blick gerät.

„Imperiale Herrschaft in der Provinz ist ein Sammelband“, der für die Stärken des viel gescholtenen Genres steht. Seine große Zahl der passenden Fallbeispiele weckt Lust auf die Lektüre der dahinterstehenden monographischen Arbeiten. Seine Dichte übersteigt die Leistungsfähigkeit eines Zeitschriftenthemenheftes. Insofern sind ihm viele Leser zu wünschen.

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich. Hrsg. von Jörg Baberowski, David Feest und Christoph Gumb. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2008. 408 S. = Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnung im Vergleich, 11. ISBN: 978-3-593-38721-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Kusber_Baberowski_Imperiale_Herrschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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