Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  582–584

Sebastian Waack Lenins Kinder. Zur Genealogie der Pfadfinder und Pioniere in Russland 1908–1924. Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2008. 108 S. ISBN: 978-3-86573-356-6.

Vsevolod L. Kučin Skauty Rossii 1909–2007. Istorija, dokumenty, svidetel’stva, vospominanija [Die Pfadfinder Russlands 1909–2007. Geschichte, Dokumente, Zeugnisse, Erinnerungen]. Izdat. Minuvšee Moskva 2008. 593 S., Abb. ISBN: 978-5-902073-62-8.

Die Geschichte der Kindheit bzw. der Kinder in der Sowjetunion ist lange Zeit erstaunlich wenig erforscht worden. Erst in den letzten Jahren findet das Thema stärkere Beachtung. Catriona Kel­ly hat mit ihrer vor kurzem erschienenen um­fangreichen Monographie „Children’s world“ das Feld abgesteckt; aber zu vielen Fragen liegen nach wie vor keine Einzeluntersuchungen vor. Das betrifft auch die Pionierbewegung und ihre Entstehung, die in vielerlei Hinsicht in Zusammenhang mit der russischen Pfad­finderbewegung (rossijskoe skautskoe dvi­že­nie) steht. In der Forschung wurde stets Nadežda Krupskaja als die treibende Kraft bei der Errichtung der bolschewistischen Kinderorganisation angesehen und in diesem Zusammenhang auf ihre Schrift „RKSM i bojskautizm“ von 1922 verwiesen. In ihr plädierte sie für die Übernahme von Methoden der Pfadfinderbewegung, die sich als erfolgreich erwiesen hatten. Mit Hinblick auf Ansatz, Intention und Quellenbasis sind jetzt zwei völlig unterschiedliche Bücher zu den russischen skauty erschienen.

Bei der kleinen Studie von Sebastian Waack handelt es sich um die Publikation einer Diplomarbeit im Fach Pädagogik. Angesichts des engen methodischen Zugriffs, der begrenzten Quellengrundlage und des sparsamen Umgangs mit Sekundärliteratur stellt sich die Frage, ob ein konzentriert geschriebener Aufsatz nicht die geeignetere Form der Veröffentlichung gewesen wäre. Waacks Ansatz ist ambitioniert: mit dem Foucaultschen Konzept der „Gouvernementalität“ will er „am konkreten Beispiel zwei­er Kinder- und Jugendorganisationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Subjek­tivierungsstrategien, Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale, die im Rahmen sich überlagernder Machtverhältnisse ihr Wirkung entfalten“, untersuchen. Sein Verständnis vom Begriff „Gouvernementalität“ beinhaltet sowohl die zunehmende Bürokratisierung und Institutionalisierung des Staates als auch den staatlichen Zugriff auf den Einzelnen, auf gesellschaftliche Gruppen und die Gesellschaft insgesamt sowie umgekehrt die (Anpassungs-)Leistungen der Letzteren an eben jenen Prozess der „Verstaatlichung“.

So plausibel solch ein Zugang klingen mag, so schwer ist es, ihn bei der Analyse der Quellen durchgängig im Auge zu behalten. Im Haupt­teil nimmt Waack wenig Bezug auf seine methodische Ausgangsposition, sondern erzählt anhand kleiner, in den 1920er Jahren erschienener sowjetischer Broschüren sowie einiger Archivdokumente die Geschichte der russischen Pfadfinderbewegung, beschreibt ihre teilweise Auflösung und – mit stärkerer Betonung – ihre Fortsetzung in der Pionierbewegung. Er zeichnet nach, wie das Gesetz der Pfadfinder allmählich den neuen politischen Umständen angepasst wurde und welche Rolle führende skautmaster in der neuen Kinderbewegung der Pioniere spielten. Er weist auch darauf hin, dass bis hin zu Kleidung, symbolischen Handlungen und der Losung „Seid bereit – immer bereit!“ wesentliche Elemente der Bewegung übernommen wurden. Ihrem Anspruch nach zwar unpolitisch, sei die Pfadfinderbewegung dennoch von der neuen Staatsführung leicht für den Zugriff auf die Kinder nutzbar zu machen gewesen, weil sie den Einzelnen streng in ein hierarchisches System einband und sich das Individuum bedingungslos der Gruppe (später dem Kollektiv) unterordnen musste.

In diesem Zusammenhang und erst in den Schlussbemerkungen nimmt Waack Bezug auf Makarenko. Die Diskussion des pädagogischen Konzeptes Makarenkos und anderer pädagogischer Ideen der Zeit hätten die Studie Waacks gerade im Hinblick auf das Untersuchungsziel bereichert. Ernsthafte Kritik muss sich der Autor noch in anderer Hinsicht gefallen lassen: Es fehlt ein quellenkritischer Umgang mit den für die Arbeit genutzten Materialien. So wäre unter anderem zu bedenken gewesen, warum bestimmte Erinnerungen erscheinen konnten, mit welchem Ziel sie geschrieben wurden und was in ihnen ausgeblendet werden musste. Ohne diesen kritischen Blick gerät die Erzählung ungewollt zu einer bruchlosen Erfolgsgeschichte, sowohl für die Pfadfinderbewegung (in Anbetracht der Kontinuität) als auch für das bolschewistische Erziehungskonzept (wegen des allumfassenden Zugriffs auf die Jugend).

Vsevolod L. Kučin, selbst aktives Mitglied der in den 1990er Jahren erneut ins Leben gerufenen russischen Pfadfinderorganisation, zeichnet in seinem umfangreichen Aufsatz-, Dokumenten- und Memoirenband ein völlig anderes Bild. Er betont den zivilgesellschaftlichen und internationalen Ansatz der Bewegung, deren Mitglieder sich mehrheitlich in Opposition zum Bolschewismus befunden hätten. Dementsprechend rücken die Emigration und die Verfolgung der Mitglieder in den Mittelpunkt der Untersuchung. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Verhaftungswelle von 1926, die sich gegen jene skauty richtete, die auch nach dem offiziellen Verbot von 1923 ihre Aktivität nicht aufgeben wollten und in der Folge staatlichen Repressionen ausgesetzt waren. Die Volljährigen wurden zu Lagerhaft auf den Solovki-Inseln verurteilt, die Jüngeren für drei Jahre aus Moskau verbannt und ihrer Bürgerrechte für verlustig erklärt. Die ausführlichen Erinnerungen vermitteln dem Leser einen eindrucksvollen Einblick in die Lebensläufe dieser Menschen, in ihre meist bürgerliche Herkunft, ihr soziales Netz, ihr Leben nach dem Krieg und ihren Kampf um Rehabilitierung, die für die meisten 1964 erfolgte. Wenngleich es sich bei dem Band keinesfalls um eine kritische Quellenedition handelt, sondern eher um eine Zusammenstellung verschiedenster Tex­te, ist er trotzdem aufgrund der Dichte der In­formationen eine gute Grundlage, um sich einen Eindruck von diesem bisher kaum erforschten Kapitel sowjetischer Geschichte zu machen.

Corinna Kuhr-Korolev, Bochum/Moskau

Zitierweise: Corinna Kuhr-Korolev über: Sebastian Waack: Lenins Kinder. Zur Genealogie der Pfadfinder und Pioniere in Russland 1908–1924. Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2008. ISBN: 978-3-86573-356-6; Vsevolod L. Kučin: Skauty Rossii 1909–2007. Istorija, dokumenty, svidetel’stva, vospominanija [Die Pfadfinder Russlands 1909–2007. Geschichte, Dokumente, Zeugnisse, Erinnerungen]. Izdat. Minuvšee Moskva 2008. Abb. ISBN: 978-5-902073-62-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 582–584: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kuhr_Korolev_SR_Waack_Kucin.html (Datum des Seitenbesuchs)