Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Herbert Küpper

 

Jana Osterkamp Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920–1939). Verfassungsidee – Demokratieverständnis – Nationalitätenproblem. Verlag Vittorio Klostermann Frankfurt a.M. 2009. X, 309 S. = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 243. ISBN: 978-3-465-04073-6.

Die Entstehung erster Verfassungsgerichte als eigenständige Verfassungsorgane fällt in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Österreich, Liech­tenstein und die Tschechoslowakei wetteifern um den Ruhm, das weltweit erste Verfassungsgericht errichtet zu haben. Während die Frühzeit der Gerichte in Wien und Vaduz mittlerweile wissenschaftlich hinreichend aufgearbeitet ist, kann man dies für das Verfassungsgericht der Ersten und Zweiten Tschechoslowakischen Republik nicht behaupten. Selbst auf Tschechisch liegt keine umfassende Bestandsaufnahme seiner Rechtsstellung und Tätigkeit vor. Es gibt nur punktuelle Darstellungen, die dem tschechoslowakischen Verfassungsgericht tendenziell Untätigkeit und Scheitern bescheinigen.

Diese Forschungslücke füllt das vorliegende Werk. Die Autorin behandelt in einem ersten Teil die Rechtsstellung des Gerichts und seine Kompetenzen, in einem zweiten Teil seine Urteilstätigkeit und deren Auswirkungen und in einem dritten Teil den nationalitätenpolitischen Aspekt der Debatte um das Verfassungsgericht. Besondere Beachtung verdient der die Rechtsprechung aufarbeitende zweite Teil, weil das Prager Verfassungsgericht keine Entscheidungs­sammlung herausgegeben hat. Die Autorin hat vielmehr den Inhalt der insgesamt 47 Urteile aus den Akten und verstreuten Publikationen erschlossen und somit eine Quellenarbeit leisten müssen, die üblicherweise die Gerichte selbst übernehmen. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den beiden allerersten Urteilen über die Zulässigkeit der Delegation von Gesetzgebungsbefugnissen auf die Exekutive und über die Befugnis höherer Strafgerichte, Fälle an niedrigere Gerichte zu verweisen. Gerade das erste Urteil löste eine Debatte in der tschechoslowakischen Wissenschaft vom öffentlichen Recht aus, die als – der deutschen Debatte vergleichbarer – „Methoden- und Richtungsstreit der tschechoslowakischen Verfassungsrechtler“ (S. 93) bezeichnet werden kann. Bei den Darstellungen zur zweiten Funktionsperiode 1938/39 wird die bizarre Situation des Gerichts deutlich: Es musste im Zerfallsprozess der Zweiten Republik rechtsstaatliche Standards einer bereits untergegangenen Verfassung hochhalten. Dass dies auch im Gericht selbst zu politischen Debatten führte, wird bei der Darstellung der Argumente der „Pragmatiker“ deutlich, die den „Konstitutionalisten“ vorwarfen, mit ihrem Festhalten an verfassungsrechtlichen Standards den Staat gegenüber dem Feind zu schwächen (S. 162–168). Über die Endzeit des Gerichts unter der deutschen Besetzungsherrschaft hätte der Leser gerne mehr erfahren als den lapidaren Satz, „dem alten Verfassungsgericht blieb nur noch, in der Zeit des ‚Protektorats‘ seine ausstehenden Verfahren aufzuarbeiten“ (S. 250).

Der dritte Teil „Verfassungsgerichtsbarkeit und Nationalitätenproblem“ ist einem auch für das Verfassungsgericht wichtigen Fragenkreis gewidmet. Das Verfassungsgericht stand vor dem Problem, „wie eine auf individueller Gleich­heit aufgebaute Verfassungsdemokratie dem Phänomen nationaler Minderheiten rechtlich und politisch gerecht werden kann“ (S. 197). Allerdings behandelt die Autorin hier nicht so sehr die nationalitätenrechtlichen Urteile, sondern vielmehr die Vorschläge der Minderheiten zur Verfassungsreform und zu der dem Verfassungsgericht darin zugedachten Rolle. Die innerhalb der deutschen Minderheit spätestens ab den dreißiger Jahren dominierenden illiberalen und antidemokratischen Strömungen wollten anstelle individueller Freiheit eine ethnisch-korporative Zwangsstruktur, und die „politischen Bemühungen vor allem der Sudetendeutschen, aus dem tschechoslowakischen Verfassungsgericht einen Nationalitätengerichtshof zu machen“ (S. 195), bilden den Hauptpunkt dieses Kapitels. Es schließt mit der Übernahme der sudetendeutschen Argumente durch die slowakischen und karpathoukrainischen Nationalisten.

Stets bilden die rechtlichen Regelungen und Urteilsinhalte nur den Ausgangspunkt der Darstellung. Die Autorin bettet diese Akte in die zeitgenössische verfassungsrechtliche und politische Debatte ein. So entfachte bereits die Schaffung des Verfassungsgerichts Diskussionen über den Vorrang der Verfassung und die Aufhebbarkeit von Gesetzen, die bei weitem nicht nur rechtlichen Charakter trugen. Der Grund liegt in dem innovativen Charakter einer verselbstständigten Verfassungsgerichtsbarkeit und dem Prinzip einer konzentrierten und abstrakten Normenkontrolle, das es dem Verfassungsgericht erlaubt, sich im Fall der Verfassungswidrigkeit über den Gesetzgeber hinwegzusetzen. Da in der Tschechoslowakei anders als in Österreich die Verfassungsgerichtsbarkeit stets dem objektiven Verfassungsschutz verpflichtet blieb und dem subjektiven Rechtsschutz nicht geöffnet wurde, kam es nur zu wenigen verfassungsgerichtlichen Verfahren – die antragsberechtigten politischen Verfassungsorgane und Obergerichte hatten einfach kein Interesse an verfassungsgerichtlicher Klärung.

Dennoch lösten einige Urteile intensive Debatten aus. Minutiös zeichnet das Werk die Wechselwirkungen zwischen juristischen und politischen Argumenten nach. Dadurch entsteht ein anschauliches Bild der politischen Realitäten in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Nicht nur die zeitgenössische tschechoslowakische Literatur wird ausgewertet, sondern auch das heutige tschechische Schrifttum. Dies ist nicht zuletzt deshalb von Belang, weil sich gerade im öffentlichen Recht zahlreiche tschechische Juristen auf das vergleichsweise hohe wissenschaftliche Niveau der Zwischenkriegszeit stützen und somit ein unmittelbarer Einfluss des Rechtsdenkens der Ersten Republik auf die heutige Wissenschaft feststellbar ist.

Durch die ungeprüfte Übernahme tschechischer Literatur schleichen sich allerdings bisweilen inhaltliche Fehler sein; so schreibt Osterkamp unter Berufung auf ein Werk von Čapková (2004): „Die rechtliche Anerkennung einer jüdischen Nationalität war europaweit einzigartig“ (S. 198, Anm. 4). Gerade in der Zwischenkriegszeit gab es aber zahlreiche Beispiele für die rechtliche Anerkennung einer jüdischen Nationalität – auf demokratischer Grundlage z.B. in Estland (mit dessen Minderheitenrecht sich Osterkamp selbst an anderer Stelle beschäftigt: S. 209 und Anm. 70), kollektivistisch-autoritär z.B. in der Sowjetunion.

Indem Osterkamp die rechtsnahen Sachverhalte nicht nur in die rechtswissenschaftlichen Debatten, sondern auch in die zeitgenössischen politischen Vorgänge und Diskussionen einbettet, entwirft sie ein Tableau, das für Juristen ebenso interessant ist wie für Vertreter anderer Disziplinen. Die Auseinandersetzungen der einzelnen politischen Kräfte mit dem Verfassungsgericht, aber auch die Verhandlungen der Eingaben seitens der politischen Parteien durch das Verfassungsgericht werfen ein Schlaglicht auf das Verständnis von Demokratie, Rechtsstaat, liberaler Staatlichkeit oder eben auch ständischem oder völkischem Kollektivismus der politischen Akteure. So wird nicht nur verständlich, wieso das Prager Gericht – anders als seine Schwester in Wien – nur geringe Spruchtätigkeit entfalten konnte und folglich selbst von den Zeitgenossen im eigenen Land nicht wahrgenommen wurde. Man erhält auch einen vertieften Einblick in die Krise der Demokratie in der Tschechoslowakei in den zwanziger und vor allem dreißiger Jahren und in einige ihrer Ursachen.

Herbert Küpper, Regensburg

Zitierweise: Herbert Küpper über: Jana Osterkamp Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920–1939). Verfassungsidee – Demokratieverständnis – Nationalitätenproblem. Verlag Vittorio Klostermann Frankfurt a.M. 2009. X. = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 243. ISBN: 978-3-465-04073-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kuepper_Osterkamp_Verfassungsgerichtsbarkeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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