Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 516-517

Verfasst von: Markus Krzoska

 

Yaman Kouli: Wissen und nach-industrielle Produktion. Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956. Stuttgart: Steiner, 2014. 319 S., 19 Tab., 9 Abb., 2 Ktn. = Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte, 226. ISBN: 978-3-515-10655-9.

Die aus einer Chemnitzer Dissertation hervorgegangene Arbeit unternimmt zum ersten Mal den Versuch, die Wirtschaftsgeschichte einer altostdeutschen Region mit der Entwicklung einer polnischen Wojewodschaft in den ersten Jahren nach 1945 in Beziehung zu setzen. Der Verfasser wählte dabei nicht ohne Grund das Beispiel Niederschlesiens, gehörte dieses trotz manchmal anderslautender Aussagen vor und während des Krieges zu den stärker industriell geprägten Gegenden östlich der Neiße. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht die These, die Rekonstruktion dieser Industrielandschaft im polnischen Staat sei letztlich gescheitert, weil das für die Produktionszusammenhänge notwendige Wissen der Arbeitnehmer durch die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung nicht mehr vorhanden gewesen sei.

In der theoretischen Einführung blickt Kouli auf den Zusammenhang von Wissens- und industrieller Produktion. Diese sehr gelungenen Ausführungen zur Nichtspeicherbarkeit von Wissensnetzwerken sind für künftige Anwendungen ebenso nützlich wie die Überlegungen zur wirtschaftswissenschaftlichen Rekonstruktions- und zur Catch-Up-These, die letztlich beide davon ausgehen, dass – systemunabhängig – auf ein geringes Produktionsniveau ein starkes Wirtschaftswachstum folgt, zumindest, wenn eine gewisse Kontinuität von Wissensnetzwerken besteht.

Der Verfasser geht im ersten Teil seiner Arbeit unter anderem der Frage nach, welchen Einfluss kriegsbedingte Produktionsverlagerungen hatten und in welchem Zustand sich die niederschlesische Industrie im Jahre 1945 befand. Aufgrund der nicht immer zuverlässigen Datenbasis bzw. des weitgehenden Fehlens quantitativer Angaben können die daraus resultierenden Thesen nicht immer überzeugen; es sprechen allerdings doch einige Argumente dafür, dass die unmittelbaren Folgen von Kriegszerstörungen und Demontagen nicht so gravierend waren, wie es gerade in der volkspolnischen Forschung dargestellt worden ist. Dass sich der Verfasser in seiner ‚Quellennot‘ auf propagandistische Arbeiten kommunistisch polnischer wie vertriebenennaher deutscher Provenienz stützt, macht ihn an dieser Stelle freilich angreifbar.

Im Folgenden skizziert Kouli die Übernahme der Industriebetriebe durch Polen. Dabei weist er insbesondere auf ein gewisses institutionelles Chaos und die widerstreitenden Interessen diverser Akteure hin, wie sie auch in den späteren Ausführungen zur Lage der Deutschen in Niederschlesien deutlich werden. Bei seiner Analyse der stalinistischen Wirtschaftspolitik wagt er eine gewisse Rehabilitierung des Sechsjahrplans, der keineswegs eine einseitige Bevorzugung der Schwerindustrie bedeutet habe. Diese These mit der Situation in Niederschlesien zu belegen, hilft jedoch nur bedingt weiter, weil diese Wojewodschaft für den Ausbau jener Schwerindustrie eher weniger vorgesehen war. Gewisse Nuancierungen des Forschungsstandes sind allerdings in der Tat angebracht. So kann Kouli belegen, dass lokale Wirtschaftsfunktionäre durchaus ein echtes Interesse an einem Wiederaufbau der industriellen Struktur mitbrachten. Wenn er davon spricht, dass es bei der Verteilung der Beschäftigten auf die Wirtschaftszweige klar sichtbare Kontinuitäten zwischen den Kriegsjahren und 1956 gegeben hat, so scheinen die nackten Prozentzahlen dies zu belegen. Hier wäre es aber interessant gewesen zu erfahren, ob es sich tatsächlich auch um die gleichen Industriebetriebe gehandelt hat oder ob sich dahinter nicht doch eine viel größere Fluktuation verbirgt (S. 186). Dass ein so hoher Anteil der Investitionen in die Landwirtschaft der Westgebiete ging, ist dagegen nicht weiter verwunderlich, ließ sich dort doch durch die Änderung der Besitzverhältnisse die Kollektivierung problemloser durchsetzen. Allerdings wäre hier zugleich eine stärkere Differenzierung der „Alten Gebiete“ nützlich gewesen, denn eine einheitliche Struktur lag dort ja gerade nicht vor.

Nach einem längeren Überblick über den Ablauf der Zwangsaussiedlung der Deutschen und die mentale Situation der Neusiedler – hier kontextualisiert Kouli die gefälschten Ergebnisse des „Trzy razy tak“-Referendums von 1946 unzutreffend (S. 216) – folgt der gelungenste Teil der Arbeit über das Scheitern des industriellen Wiederaufbaus aufgrund des fehlenden Knowhows der neuen Arbeitskräfte. In der Tat scheint den polnischen Machthabern die Bedeutung dieses Faktors inklusive der dualen Berufsausbildung praktisch gar nicht bewusst gewesen zu sein – eine Parallele zur Lage in den ehemals deutsch besiedelten Gebieten der Tschechoslowakei wird dabei völlig zu Recht gezogen. Ob man dagegen so weit gehen muss, die zum Positiven hin veränderte Politik der Warschauer Führung gegenüber den Deutschen ausschließlich auf den wirtschaftlichen Druck zu reduzieren, bleibt dahingestellt. Den entscheidenden Grund hierfür nennt der Verfasser jedenfalls nicht: die seit dem Dezember 1948 erfolgte Abkehr von nationalkommunistischen Vorstellungen hin zu vor allem klassenbezogenen. Der „deutsche“ Arbeiter konnte somit auf einer Stufe mit dem „polnischen“ stehen, die wahren deutschen Feinde saßen diesem Interpretationsmodell zufolge nun sowieso in den Westzonen der entstehenden Bundesrepublik.

Am Ende erscheint die Hauptthese Koulis überzeugend, besonders wenn man die Entwicklung Niederschlesiens mit der in der DDR oder der Sowjetunion vergleicht, wo durchaus – aus unterschiedlichen Gründen – ein gewisser wirtschaftlicher Aufschwung zu verzeichnen war. Die Kombination aus unterschiedlichen Prägungen und Interessen erklärt dann auch die Tatsache, dass die Einarbeitung polnischer durch deutsche Arbeitskräfte scheitern musste.

Insgesamt ist es sehr zu begrüßen, dass der Verfasser es gewagt hat, wissenschaftliches Neuland zu betreten und eine Vergleichsebene zu eröffnen, die bisher viel zu selten in den Blick genommen wurde. Kleinere inhaltliche und sprachliche Fehler gehen eher auf das Konto eines nicht allzu genauen Lektorat: z. B. erscheint Karol Fiedor durchgehend als Fiedor Karol; mit Żaganie könnte der gleichnamige See in der Kaschubei gemeint sein, ein Ort solchen Namens existiert in Niederschlesien nicht (S. 107), falls die Stadt Żagań gmeint ist, hat sie nichts mit Pommern zu tun; Sowjetgeneral Feofan Lagunov ist mit einer polnischen Schreibweise vertreten (S. 133); sechs nordniederschlesische Kreise fielen am 7.7.1945 nicht an „Ostpommern“, sondern an die Wojewodschaft Posen (S. 173).

Markus Krzoska, Gießen

Zitierweise: Markus Krzoska über: Yaman Kouli: Wissen und nach-industrielle Produktion. Das Beispiel der gescheiterten Rekonstruktion Niederschlesiens 1936–1956. Stuttgart: Steiner, 2014. 319 S., 19 Tab., 9 Abb., 2 Ktn. = Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte, 226. ISBN: 978-3-515-10655-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Krzoska_Kouli_Wissen_und_nach-industrielle_Produktion.html (Datum des Seitenbesuchs)

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