Peter Brock, John D. Stanley, Piotr J. Wró­bel (Hrsg.) Nation and History. Polish Historians from the Enlightenment to the Second World War. University of Toronto Press Toronto, Buffalo, London 2006. X, 493 S. ISBN: 0-8020-9036-2.

Polnische Historiographiegeschichte wurde und wird allzu oft als reine Nabelschau einiger weniger, meist in Polen selbst tätiger Spezialisten betrieben, deren Wirkung sogar auf die Fachöffentlichkeit meist recht gering ist. Ausnahmen wie das methodisch innovative Schaffen Jerzy Topolskis oder Rafał Stobieckis Modernisierungsversuche des Themas bestätigen diese Regel. Dies und die häufig fehlende Übersetzung zentraler Arbeiten der polnischen Geschichtswissenschaft in westliche Sprachen haben zu einem ähnlichen Ergebnis wie bei der polnischen Belletristik geführt: Polonica non vel raro leguntur.

Gleiches gilt für die Biographien polnischer Historiker – einflussreiche Historikerinnen gab es erst nach 1945. Während in deutscher Sprache nach wie vor kein diesbezügliches Nachschlage- oder Sammelwerk vorliegt, gibt es nun ausgehend vom kanadischen bzw. auslandspolnischen wissenschaftlichen Milieu eine umfassende englischsprachige Darstellung, die in verschiedenen Biogrammen die nach Meinung der Herausgeber 24 wichtigsten polnischen Historiker seit dem 18. Jahrhundert umfasst, von Adam Naruszewicz und Joachim Lelewel über Tadeusz Korzon und Michał Bobrzyński, Szymon Askenazy und Franciszek Bujak bis hin zu Natalia Gąsiorowska-Grabowska (der einzigen Frau) und Oskar Halecki. Verfasst haben sie amerikanische und polnische Wissenschaftler, dar­unter solche Größen ihres Fachs wie Peter Brock, Jerzy Kłoczowski oder Andrzej Wierz­bic­ki.

In der lesenswerten Einleitung zeichnet John D. Stanley die Entwicklung der polnischen Geschichtswissenschaft auf sehr prägnante und ausgewogene Weise nach, wie auch sonst alle Ver­fasser bemüht waren, homogene und bei aller Sympathie für die Porträtierten ausreichend kritische Texte zu verfassen, was ihnen auch durchgehend gelungen ist. Dass mitunter ein gewisser nationalpolnischer, auch martyrologischer Duktus zu verzeichnen ist, ist vor dem per­sönlichen Hintergrund der Autoren verzeihlich und stört die Lektüre nicht entscheidend. Die Verfasser zeichnen in aller Regel den Lebensweg der jeweiligen Historiker ebenso nach, wie sie deren zentrale Werke analysieren und auf die Bedeutung für nachfolgende Generationen abklopfen.

An der Auswahl der Personen gibt es im Prinzip nichts auszusetzen. Natürlich wird jeder Leser den einen oder anderen Wissenschaftler vermissen oder für eigentlich nicht notwendig halten. Gehören etwa Marian Kukiel oder Adam Próchnik wirklich zu den bedeutendsten polnischen Historikern? Hätte man nicht auch einen Wojciech Kętrzyński oder Julian Marchlewski aufnehmen sollen? Alles in allem sind die zentralen Figuren aber erfasst und erhalten würdige Darstellungen, die außerdem meist eine Eigenschaft aufweisen, die man in trockenen, positivistischen Texten deutscher oder polnischer Provenienz häufig vermisst: Sie sind ausgesprochen gut lesbar. Die Heterogenität der Verfasser­gruppe erlaubt es zusätzlich, bis heute anhaltende Meinungsunterschiede bei der Bewertung historiographischer Entwicklungslinien nachzuverfolgen. Meistens bewegen sich diese im Umfeld der beiden zentralen Achsen polnischen politischen Denkens seit dem 19. Jahrhundert: einer eher optimistischen bzw. einer eher pessimis­tischen Geschichtsbetrachtung (normalerwei­se vereinfacht als Warschauer bzw. Krakau­er Schule bezeichnet) sowie der Unterscheidung zwischen jagiellonischer und piastischer Idee in Bezug auf die Festlegung idealer polnischer Gren­zen.

Naturgemäß ergibt sich bei der Lektüre ein Eindruck von der seit jeher starken Netzwerkbildung der polnischen Geschichtswissenschaft, die von einigen wenigen universitären Zentren und dominanten Persönlichkeiten ausging und sich über die akademischen Lehrer (mistrzowie), ihre Schüler und deren Schüler einem Myzel gleich über mehrere Generationen ausbreitete. Ähn­liches gilt aber auch für die zentralen historiosophischen Ideen und Schwerpunktthemen. Gar nicht selten findet sich in der Lebenszeit einer Person ein ganzes Bündel politischer Auffas­sungen vereint; die Abhängigkeit von makro­politischen Ereignissen auf die Biographien ist augenfällig. Nichtsdestotrotz fällt auf, wie viele Wissenschaftler allen Unbilden zum Trotz hartnäckig an ihrer Berufung – und als eine solche empfanden es die meisten – festhielten. In den schweren Zeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt wohl grundsätzlich die Formulierung eines einstmaligen Studenten, des späteren Frühneuzeithistorikers Janusz Woliński, über seinen akademischen Lehrer und den vielleicht bedeutendsten polnischen Historiker jener Zeit, den von seinen Landsleuten verratenen und von den Deutschen zu Tode geschundenen Marceli Handelsman: „Er war jederzeit bereit, sein Leben für Polen zu geben“.

Es fällt schwer, einzelne Beiträge aus diesem sehr gelungenen Buch herauszuheben. Alle bilden sie eine Fundgrube für weitere Forschungen, sei es zur polnischen Ideen- und Geistesgeschichte, sei es zu einer bisher noch ganz in den Anfängen steckenden intellektuellen europäi­schen histoire croisée und dem polnischen Anteil daran. Hierfür böte nicht zuletzt die Entwicklung der neuen Informationstechnologien eine Reihe ungeahnter Möglichkeiten, ist doch eine Vielzahl bisher schwer zugänglicher Texte polnischer Historiker in ihren Originalversionen über digitale Bibliotheken oder Google Books mittlerweile von fast jedem Rechner aus verfügbar.

Markus Krzoska, Gießen

Zitierweise: Markus Krzoska über: Krzoska_Brock_Stanley_Wrobel_Nation_and_History. ISBN: 0-8020-9036-2., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 1, S. 126-128: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Krzoska_Brock_Stanley_Wrobel_Nation_and_History.html (Datum des Seitenbesuchs)