Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Hanna Kozińska-Witt

 

Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Vorträge der gemeinsamen Tagung des Collegium Carolinum und des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats in Bad Wiessee vom 23. bis 26. November 2006. Hrsg. von Thomas M. Bohn. München: Oldenbourg, 2009. 447 S., Abb. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 29; Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa, 4. ISBN 978-3-486-58956-6.

Der Band geht auf eine Tagung des Collegium Carolinum und des Herder-Forschungsrates in Bad Wiessee im November 2006 zurück. Schon der erste Teil des Titels weist darauf hin, dass das eigentliche Thema des Sammelbandes die Evolution der östlichen Städte in Bezug auf die Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang fokussiert. Es geht um „Probleme der Urbanisierung der Nachzüglergesellschaften“, um die Stellung, die Städte dieser Großregion unter der Wechselwirkung der Sowjetisierung und der Amerikanisierung einnahmen, und um das Problem urbaner Transformationen im östlichen Europa bei der Errichtung und Überwindung sozialistischer Herrschaftssysteme. Die Stadt wird nicht nur als die gebaute Umwelt, sondern als ein Lebensraum definiert. Eine der Kernfragen des Bandes lautet, ob es überhaupt das Phänomen einer besonderen sozialistischen Stadt gibt und was darunter zu verstehen ist.

Die Antwort wird sowohl in traditionellen urbanen Zentren wie in den neu entstandenen industriellen Städten Tschechiens, Ungarns, Sloweniens, Polens und der neuen post-sowjetischen Staaten gesucht. Die am intensivsten besprochene Stadt ist dabei Prag, das den Untersuchungsgegenstand dreier Beiträge bildet. Außer Prag liefern Stettin, Leningrad, Budapest und Ljubljana Beispiele für alte, erhaltene Städte, die sozialistisch und national umkodiert werden konnten. Zudem werden Modi des Wiederaufbaus zerstörter Städte analysiert, mit deren Hilfe man eine gewünschte Botschaft zu vermitteln suchte (Legnica, Głogów, Narva). Die Industriestädte, die als Annexe zu Industriebetrieben konzipiert waren und die wegen der raschen Industrialisierung des Ostens dort einen besonderen Stellenwert hatten, werden im Band in mehreren Ausgestaltungsformen besprochen: als ein relativ autonomes Gebilde (Eisenhüttenstadt), als ein Subgebilde zum alten Zentrum (Nowa Huta, Ostrava-Kunčice) und in einer spezifisch sowjetischen, isolierten Ausführung (geschlossene Städte). Als Gegenpol dazu wurden die ruralisierten Kommunen analysiert (Minsk). Während die Autoren keine Zweifel hegen, dass es das Phänomen einer „europäischen Stadt“ gibt – sie verbinden deren Europäizität meistens mit einer Bürgerlichkeit, die nicht unbedingt mit dem Vorhandensein des Bürgertums gleichzusetzen sei – bereitet ihnen die Frage, was eigentlich eine „sozialistische Stadt“ ausmache, einige Schwierigkeiten. Denn die Entwürfe einer solchen Stadt sind in der avantgardistischen Modernen Europas und in seinem links orientierten internationalen Milieu verwurzelt, und somit ein durchaus paneuropäisches Phänomen. Auch nach dem Krieg kann man weiterhin von einer gegenseitigen Beeinflussung beispielsweise im Denkmalschutz und von einem technischen West-Ost-Transfer sprechen. Die alten, intakt gebliebenen Städte wurden dagegen in „sozialistische Städte“ überführt, indem man deren traditionsreiche Substanz einer äußerlichen, ‚behutsamen‘ Umkodierung unterzog (S. 41), womit „eine neue Leseart des traditionellen Stadtbilds kreiert“ wurde (Prag, Szczecin, schlesische Städte). Charakteristisch war deswegen für die osteuropäischen Städte nicht deren äußerliche Form, sondern eher jeglicher Mangel an kommunaler Autonomie und der Umstand, dass auf die Eigentumsverhältnisse keine Rücksicht genommen wurde. Bohn spricht schlichtweg von „Problemen der nachholenden Modernisierung“. (S. 19) Demnach brauchte man nach der Wende eigentlich nicht zur europäischen Stadt zurückzukehren, denn sie war stets vorhanden, sondern es war vielmehr deren Idee unter den veränderten Konditionen der gewonnenen privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Freiheit fortzusetzen und weiterzuentwickeln (Dresden). Auf diese Erkenntnis bezieht sich der als Frage formulierte Titel des Sammelbandes.

Besonders erscheinen an den osteuropäischen Städten dagegen deren Entwicklungsumstände hinsichtlich ihrer Einwohnerschaft. Obwohl mehrere Autoren das Stadt-Land-Gefälle im Osten Europas betonen, erwägt jedoch keiner von ihnen, ob nicht gerade dieses strukturelle Missverhältnis eine „sozialistischen Stadt“ in gewissem Maße ausmachte. Als struktureller Hintergrund bieten sich „die Überbevölkerung“ und „die Wohnungsnot“ an, die dem östlichen Europa attestiert wurden und schon vor dem Krieg unlösbar schienen.

Es waren die Städte, die ihre Bevölkerung im Krieg flächendeckend verloren haben; daher schienen sie nach dem Krieg umso ‚aufnahmefähiger‘. Die rasche Verstädterung begleitete hier eine forcierte Industrialisierung, die nach der Entvölkerung samt der Zerstörung im Krieg und nach der massenhaften ‚Verschiebung‘ ganzer Bevölkerungsgruppen einsetzte. Manche der neuen Städte fingen die ‚Verschobenen‘ auf (Eisenhüttenstadt). Aber auch die alten, nun ‚entleerten‘ Stadtviertel und Städte wurden erneut von Neuankömmlingen ‚kolonisiert‘. Wenn diese Kommunen zusammen mit ihren neuen Bewohnern auch die nationale Zugehörigkeit wechselten, wurden die Städte eher national als klassenbewusst umkodiert (Szczecin, schlesische Städte). Homines novi wurden auf die alten Wohnungen verteilt, wo sie quasi-Wohngemeinschaften mit anderen Fremden bildeten und entsprechend erzogen wurden (Leningrad). Die neu Zugezogenen errichteten und bewohnten neue Stadtteile und Industriestädte, die sich dualistisch, „mit monumentalen Zentren und mit monotonen Wohngebieten“, charakterisieren lassen, was auf den ideologischen Wert des Öffentlichen und die praktische Berücksichtigung des Privaten rückschließen lässt (Minsk). Auf diese neu entstehenden Stadtgegenden richtete sich die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Regierenden, die gleichzeitig die alten Stadtviertel verkommen ließen. Dies war einer der Gründe dafür, dass sich „die bessere Platte“ zu einer begehrten Wohngegend entwickeln konnte (Budapest).

Einen beträchtlichen Teil der Neustädter machten die Landflüchtlinge aus, die die Städte zunächst verbäuerlichten, bis sich ihre ‚frischen‘ Einwohner einen neuen urbanen Habitus erarbeitet hatten. Manchmal bedeutete diese urbane Assimilierung eine Nationalisierung/Sowjetisierung des Individuums (Minsk, Hrodna). Dieser Habitus unterschied jedenfalls scharf zwischen dem Privaten und Öffentlichen, wertete das Eigene gegenüber dem Anderen auf und gab sich ausgesprochen spießbürgerlich  (Datscha). In Abgrenzung dazu entstanden unterschiedliche lokale Formen des von den Normen abweichenden Verhaltens (Brünn, Budapest).

Die Beiträge führen schließlich in die unmittelbare Gegenwart und benennen einige Herausforderungen, denen sich Kommunen nach dem Fall des Kommunismus stellen müssen: Schrumpfung und Entvölkerung (ostdeutsche Städte), Revitalisierung der Industriebrachen (Ostrava-Hrušov), Ausbau der Infrastruktur und Bewältigung des Verkehrsaufkommens (Prag), fortschreitende Ausdifferenzierungs- und Segregationsprozesse der Einwohner. Thematisiert wird auch das neue Sendungsbewusstsein der nach der Wende vorgenommenen Rekonstruktionen (Narva), die Notwendigkeit der Aktivierung der Stadteinwohner im Namen des städtischen Wohls und die Probleme, die diese Aktivierung und der so geweckte Lokalpartiotismus für die kommunalen Behörden und die Staatsmacht mit sich bringt (Szczecin).

Der einzige Kritikpunkt an dem anregenden, vielseitigen und gut lesbaren Buch ist das Fehlen jeglicher Register.

Hanna Kozińska-Witt, Rostock

Zitierweise: Hanna Kozińska-Witt über: Von der „europäischen Stadt“ zur „sozialistischen Stadt“ und zurück? Urbane Transformationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Vorträge der gemeinsamen Tagung des Collegium Carolinum und des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats in Bad Wiessee vom 23. bis 26. November 2006. Hrsg. von Thomas M. Bohn. R. Oldenbourg Verlag München 2009.= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 29; Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa, 4. ISBN 978-3-486-58956-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kozinska_Witt_Bohn_Von_der_europaeischen_Stadt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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