Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 442-443

Verfasst von: Hanna Kozińska-Witt

 

Joachim von Puttkamer: Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2010. 353 S., 4 Ktn. = Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 38. ISBN: 978-3-486-58169-0.

Das Buch besteht, so wie andere Werke der Reihe, aus drei Teilen: einer geschichtlich-politischen „Einführung“, den historiographischen „Grundproblemen und Tendenzen der Forschung“ und schließlich den Verzeichnissen von „Quellen und Literatur“. Den Abschluss bilden eine Zeittafel, Karten und unterschiedliche Register. Es ist als Hilfsmittel für den nacharbeitenden Historiker (Studenten, Lehrer) gedacht, das ihn unmittelbar an die Forschungsproblematik heranführen sollte. Somit spiegelt das Buch den heutigen Forschungsstand und gegenwärtige Forschungsinteressen wider, weist aber gleichzeitig auf interpretative Unterschiede und Lücken hin. Da das Werk ein Vorwissen voraussetzt, eignet es sich nicht für einen ersten thematischen Einstieg.

Es ist eine gut lesbare Darstellung des historischen Geschehens geworden, die gleichzeitig eine Summe des heutigen Forschungsstandes liefert. Somit kann man hier sowohl über die Problematik von Konfessionalisierung, Elitenwandel, Frauenemanzipation, Erinnerungskulturen wie auch der Transformation nachlesen. Der Verfasser geht auf die Vermischung der gesellschaftlichen, konfessionellen, wirtschaftlichen, ethnischen und nationalen Dimension ein, die für die Entwicklungen in dieser Region bis heute charakteristisch ist und die Unterscheidung zwischen Ursachen und Folgen des Öfteren erschwert.

Das Buch ist epochenübergreifend konzipiert; es fängt bei den wissenschaftlichen Erträgen der Forschung zur Frühen Neuzeit an und verfolgt diesen „roten Faden“ bis in unser Jahrhundert hinein. Das Werk zeugt von einer schier unglaublichen Belesenheit, die über zehn Jahre zur Niederschrift notwendig machte. Schon ein Blick in das Literaturverzeichnis macht klar, dass der Autor neben deutschen und englischen Werken großflächig die vorhandene Literatur in Polnisch, Tschechisch, Slowakisch und Ungarisch, punktuell auch in anderen Sprachen ausgewertet hat. Schon diese Sprachspezifik weist darauf hin, dass der Verfasser die vorgestellte ostmitteleuropäische Großregion im 19. Jahrhundert mit dem Gebiet des Habsburger-Reichs und dem geteilten Polen gleichsetzt und nach dem Zerfall dieser Ordnung die neuentstandenen nationalen Nach­folge­staaten und später die Volksdemokratien darunter begreift. Die heutigen Kernländer der so verstandenen Region bilden Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen – Rumänien und Bulgarien gehören dagegen eigentlich nicht hinzu. Dabei wertet der Verfasser sowohl die nationalstaatliche Ordnung der Zwischenkriegszeit als auch die Volksdemokratien auf, indem er zwar auf deren Defizite hinweist, sie aber als einen Rahmen für infrastrukturelle und gesellschaftliche Modernisierung durchaus würdigt.

Die Wurzel dieses großregionalen Verständnisses ist sehr aktuell. Obwohl es ein paar ideologische Vorreiter auch schon früher gab, ist Ostmitteleuropa eigentlich erst im Sog der Globalisierung entstanden, die die Regionen näher aneinander rückte, die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Unterschieden geschärft hat und nach solchen Großregionen überhaupt erst fragen ließ. So ist Ostmitteleuropa im Gegensatz zu älteren Perzeptionen keine Zwischenregion mehr, wo sich groß- und kleindeutsche sowie russländische Einflüsse begegneten und miteinander konkurrierten, sondern eine eigenständige Größe, deren politische Existenz allerdings durch Einwirkungen von außen entscheidend mit beeinflusst wurde. Der Verfasser bespricht sehr umfangreich die ökonomischen Voraussetzungen und Entwicklungsfaktoren, die für die Entwicklung dieser Region von großer Bedeutung waren und weiterhin sind.

Es sollte keine Darstellung von additiven Parallelgeschichten werden, sondern laut Vorwort „eine Zusammenschau unterschiedlicher Entwicklungen und gemeinsamer historischen Wurzel der Region“. Dieser Vorsatz ist m. E. in den historisch-politischen Teilen nicht ganz aufgegangen, da man die Differenzen innerhalb der Region gebührend herausarbeiten müsste. Dafür wird der Leser in den Passagen entschädigt, in denen es um gesellschaftliche Besonderheiten der Region geht. Dort wird beispielsweise die ausgeprägte Ständestaatlichkeit akzentuiert und der Wandel von den ständischen zu den nationalen Gesellschaften sehr anschaulich behandelt. Die Rolle der Eliten, Veränderungen in deren Zusammensetzung und Selbstverständnis wurden dabei überzeugend herausgearbeitet, das Stadt-Land-Gefälle ist gebührend berücksichtigt und kontrastiert. Nur ist dabei leider der spezifisch ostmitteleuropäische (Kommunal-)Liberalismus gänzlich auf der Strecke geblieben, da der Verfasser diese spezielle städtische Erscheinung allein als bürokratische Durchdringung und Ausbau des Behördenapparats interpretiert. Besonders gut gelungen ist die Berücksichtigung sowohl des historischen Geschehens als auch der treibenden Wunschbilder und Visionen, die aus einem konkreten Kontext erwuchsen und sich dann bedrohlich verselbständigten, beispielsweise das Ideal der „Nation“, aber auch diejenigen von „Demokratie“ oder „Emanzipation“.

Hanna Kozińska-Witt, Rostock

Zitierweise: Hanna Kozińska-Witt über: Joachim von Puttkamer: Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. München: Oldenbourg, 2010. 353 S., 4 Ktn. = Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 38. ISBN: 978-3-486-58169-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kozinska-Witt_von_Puttkamer_Ostmitteleuropa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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