Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 436‒438

Verfasst von: Hanna Kozińska-Witt, Rostock

 

Tim Buchen: Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900. Berlin: Metropol, 2012. 384 S., Abb., Graph. = Studien zum Antisemitismus in Europa, 3. ISBN: 978-3-86331-082-0.

Das Buch basiert auf einer Doktorarbeit, die an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der TU Berlin im Jahre 2011 eingereicht wurde. Die Dissertation wurde mit dem Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen 2011 und dem Immanuel-Kant-Forschungspreis des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien 2012 ausgezeichnet. Am Anfang reflektiert der Verfasser aktuelle historiographische Entwicklungen und bespricht vorbildlich den Stand der Forschung samt der vorherrschenden Methodologie. In Abgrenzung zu manch anderen Autoren beabsichtigt der Verfasser sowohl der Versuchung der Mythisierung Galiziens zu widerstehen, als auch die Tendenz zu vermeiden,aus der Rückschau auf menschengemachte Katastrophen diese in weiterer Vergangenheit anzulegen und nach Entwicklungslinien zu suchen, die das Geschehen historisch verständlich machen(S. 337). Ausgehend von der These Rudolf Jaworskis, dass es in Ostmitteleuropa keine antisemitischen Theoretiker von Rang, dafür aber viele Praktiker gegeben habe (S. 50), dass Antisemitismus dortkein weltanschauliches Bekenntnis, sondern vielmehr ein weitverbreitetes kollektives Einstellungsmuster, eine bestimmte vorurteilsbeladene Form des alltäglichen Umgangs mit den jüdischen Nachbarn gewesensei, wendet sich der Verfasser den Ereignissen einer relativ kurzen Spanne von etwa 30 Jahren zu. Buchen skizziert den mitteleuropäischen Kontext der Ereignisse, indem er sowohl auf die damals kursierende Literatur (antijüdische Medienereignisse, hier auch Berichte über die Dreyfuss-Affäre), als auch auf konkrete Begebenheiten aus Deutschland, Russland und aus anderen Kronländern der Habsburgermonarchie hinweist (Pogrome und Flüchtlingswellen), die in der Öffentlichkeiten Galiziens reflektiert wurden.

Der Verfasser unterteilt sein Werk in drei Themenbereiche, die er zuerst theoretisch begründet und später empirisch untersucht: Agitation, Gewalt und Politik. Wie bei dieser Themenwahl zu erwarten, hat das ländliche Galizien wenig mit dem als ruhig und fröhlich verklärten Dorf zu tun; ganz im Gegenteil: Buchens Darstellung betont die Instabilität und den Übergangscharakter der hiesigen Zustände. Die alte Standesordnung hat sich aufgelöst, die traditionelle Sozialstruktur ist im Zerfall begriffen. Auf der Suche nach einer neuen Sozialordnung und Hierarchie wurde gleichwohl das Neue ausprobiert, wie auch das Alte herbeibeschworen. Die große Leistung des Verfasser ist, dass es ihm sehr gut und bildreich gelungen ist, die Prozessualität des Antisemitismus zu erfassen. Galizien und die zu Orten des Geschehens mutierten Lokalitäten werden von ihm als theatralische Bühnen behandelt. Die Arbeit ist flüssig und interessant geschrieben.

Die Hauptleistung des Buches besteht darin, dass es an die vergessene oder verdrängte Teilgeschichte Galiziens erinnert. Beginnend mit der Geschichte der Familie Ritter aus Lutcza bei Rzeszów, die im Jahr 1882 des Ritualmordes beschuldigt wurde, über die breitflächigen Ausschreitungen im Jahr 1898 bis zu denMädchenraubender konversionswilligen Jüdinnen schildert Buchen das Entstehen eines dicht verwobenen Kommunikationsnetzes, das sich aus aufeinander bezogenen Reaktionen der Familie, der (bäuerlichen) Nachbarn, der Kirche, der Presse, der lokalen Macht und der entfernten Rechtsprecher bildet. Wie gewoben wurde, hing zwar von den Traditionen, lokalen Kulturen und Gewohnheiten ab, es wurde jedoch von den modernen Erwartungen wesentlich mitgestaltet. Die Gleichberechtigung war in die traditionelle Vorstellungswelt von außen hineingetragen, ihre Folgen wurden innerhalb hiesiger Erfahrungshorizonte, die den Antijudaismus mit umfassten, unvorstellbar.

Eine neue Dimension bekam der galizische Antijudaismus durch die Pogrome in Russland und die mit ihnen verbundene Flüchtlingswelle, die das Thema der ökonomischen Konkurrenz ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte. Die mit den Fremden assoziierteBedrohungwurde dann von neuen politischen Akteuren medial ausgeschlachtet. Unter ihnen wird denPopulisten und Klerikaleneine besondere Bedeutung zugeschrieben. Unter diesen Begriffen subsumiert der Verfasser die Aktivisten der Bauern- und der christlichen Parteien, die Juden zu den gefährlichsten Antagonisten stilisierten, primär um die Konsolidierung des eigenen Lagers in die Wege zu leiten. Buchen unterstreicht die Bedeutung der Position, die von den Machthabern gegenüber der Agitation und Gewalt bezogen wurden und zeigt an deren Beispiel, wie die administrative Durchdringung der Provinz vor sich ging, aber auch wie sich die Provinz im Zentrum (im Wiener Parlament) mit der antisemitischen Argumentation profilierte. Der Verfasser beweist, dass die Verdrängungsnarrative, die das Verschwinden der Juden durch Abwanderung hervorbrachte, von Anfang an in der Parteienagitation präsent waren. Er spricht auch von intellektuellen Eliten des Landes, die einen Einstellungswandel durchlebten, indem sie von der Idee der Assimilation und der Zivilisierung der Juden abrückten. Da sich dieseassimilationsfreundlichenPositionen in manchen galizischen Milieus weiterhin hartnäckig hielten, ist die Argumentation des Verfasser in diesem Punkt als zu pauschal zu werten.

Unter dem Strich hat sich die These Jaworskis bestätigt, wonach sich der galizische Antisemitismus theoretisch großteils auf Rohlings und Braftmans Werk stützte, das von lokalen Ideologen für hiesige Zwecke umgearbeitet wurde. Auch die weitere These von Jaworski, dievon einer vorurteilsbeladenen Form des alltäglichen Umgangs mit dem Nachbarn“, wird bestätigt: Die neue Ideologie half dabei, die alte Tradition aufrechtzuerhalten, dieeigene Juden auszurauben erlaubte, da diese sich auf Kosten der Gemeinde bereichern würden. Durch den Raub würde sich die Gemeinde nur das zurückholen, was man früher verloren habe. Vor den raubenden Fremden sollte man dagegendie Eigenenim wohlverstandenen Interesse beschützen. Hier überschreitet die Arbeit die zeitgenössischen und bis heute gern benutzten Interpretationsmuster, dass Fremde die eigentlichen Täter waren.

Obwohl Buchen einige Beispiele nicht vollzogener Gleichberechtigung nennt (Żywiec), geht er davon aus, dass die alte Standesordnung um die Jahrhundertwende tatsächlich überwunden war. Er ist m.E. dabei etwas zu voreilig, denn das Bestehen dieser Ordnung beschäftigte noch in der Zwischenkriegszeit die damals Lebenden und die Wissenschaftler, z.B. die Soziologen. Ob die post-ständischen Abhängigkeiten als kolonial bezeichnet werden können, steht dabei auf einem anderen Blatt. Schließlich müsste man, wenn man diesen Begriff verwendet, zwischen unterschiedlichen Stufen dieser Abhängigkeit unterscheiden können.

Interessant ist auch, dass Buchen, obwohl religiös untermauerte Vorstellungen in seinen Ausführungen eine große Rolle spielen, die üblichen Jahrhundertwendeängste überhaupt nicht thematisiert. Hat man sich denn in Galizien vor dem anrückenden Welt­ende nicht gefürchtet, das man durch die Wiederherstellung der alten Ordnung abzuwenden versuchte?

Es ist auch schade, dass das Kapitel zu verhinderten antisemitischen Ausschreitungen ein Torso geblieben ist. Im engeren Sinne gehörte es nicht zum eigentlichen Thema der Dissertation, aber weiter gefasst könnten solche verhinderten Ausbrüche vielleicht weit mehr über die Mechanismen des regionalen Antisemitismus verraten als die tatsächlich stattgefundenen.

Hanna Kozińska-Witt, Rostock

Zitierweise: Hanna Kozińska-Witt, Rostock über: Tim Buchen: Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900. Berlin: Metropol, 2012. 384 S., Abb., Graph. = Studien zum Antisemitismus in Europa, 3. ISBN: 978-3-86331-082-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kozinska-Witt_Buchen_Antisemitismus_in_Galizien.html (Datum des Seitenbesuchs)

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